Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. August 2003 |
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Als das grosse Sterben begann Deutsche aus Rußland, Teil III: Staatliche Repressionen engen das Leben der deutschen Siedler entscheidend ein von Uwe Greve Welche Bedeutung die Deutschen kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert in Rußland hatten, zeigt die folgende Bevölkerungsstatistik von 1897: Großrussen 55.500.000 Ukrainer 22.000.000 Polen 8.000.000 Weißrussen 6.000.000 Juden 5.000.000 Finnen 2.500.000 Deutsche 2-2.500.000 Litauer 1.500.000 Letten 1.500.000 Tataren 1.500.000 Esten 1.000.000 Die wenig entwickelte russische Statistik dieser Epoche sagt allerdings nichts über die Wirtschaftskraft der deutschen Landwirte, Handwerker und Unternehmer in Rußland aus. Sie geht mit Sicherheit weit über die zahlenmäßige Bedeutung der Deutschen hinaus. Der Tod hat viele Gesichter. Im Krieg und in den Revolutionskämpfen gingen Hunderttausende Deutsche, die in Rußland lebten, zugrunde. Der Erste Weltkrieg war die bis dahin schwerste Heimsuchung, die über die deutschen Kolonien in Rußland hinwegging. Etwa 150.000 bis 200.000 Deutsche allein aus den Wolgagebieten fielen in russischen Heeresverbänden oder gingen elendig in der Verbannung zugrunde, verjagt von Haus und Hof. Andere wurden Opfer des Bürgerkriegs zwischen "Roten" und "Weißen". Viele starben auch in den katastrophalen Hungerjahren 1920 und 1921. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges kam es zu russischen Haßausbrüchen gegen alles Deutsche. Der Gebrauch der deutschen Sprache wurde verboten, deutschsprachige Zeitungen mußten eingestellt werden, selbst deutsche Predigten in den Kirchen waren kaum noch möglich. Viele als "unsicher" eingestufte Familien wurden nach Sibirien verbannt. Ganze Dörfer verödeten. Als das von der zaristischen Regierung 1915 erlassene "Gesetz zur Liquidation des deutschen Eigentums" 1917 umgesetzt werden sollte, brach die Februar-Revolution in St. Petersburg aus. Vorübergehend konnten sich die Deutschen über die wiedergewonnene Freiheit freuen. Deutsche Zeitungen erschienen wieder, deutsche Schulen wurden neu begründet, der deutsche Gottesdienst konnte in bewährter Form wieder aufgenommen werden. In Moskau versammelte sich im April 1917 eine allgemeine "Bevollmächtigten-Versammlung der Deutschen Rußlands" unter Vorsitz von Prof. Dr. Lindemann aus Simferopol. Ein Zusammenschluß aller Deutschen Rußlands rückte in greifbare Nähe, ebenso eine Duma-Vertretung der deutschen Minderheit. Doch der Traum währte nicht lange. Unter der Knute der Bolschewisten Mit der Machtergreifung der Bolschewisten begann im Oktober eine neue Leidenszeit. Die deutsche Kolonie wurde in eine "Deutsche Arbeiterkommune des Wolgagebietes" umgewandelt. Das Saatgetreide wurde den Bauern weggenommen, Landwirtschaft, Handwerk und Industrie vielerorts vernichtet. Namenloses Elend riß viele Familien in den Tod. Alfred Eisfeld hat in seinem Buch "Die Deutschen in Rußland und in der Sowjetunion" den Bürgerkrieg in seinen Folgen für die in Rußland lebenden Deutschen drastisch beschrieben: "Er dauerte bis 1921 und brachte auch den Deutschen viel Elend und Not. Die Wolgakolonien gerieten 1918 zwischen die Fronten der Roten und der Weißen. Beide Bürgerkriegsparteien holten aus den Kolonien soviel Getreide, Vieh, Pferde und Rekruten heraus, als sie konnten. Bei Widerstand wurden die Siedlungen unter Artilleriebeschuß genommen und dann zur Ablieferung noch größerer Mengen der geforderten Güter gezwungen. Im Jahre 1919 war ein Teil der Kolonien der Bergseite Kampfgebiet zwischen den Roten und den Truppen unter dem Befehl des ,weißen Generals' von Wrangel. In einer noch schlimmeren Lage befanden sich die Kolonien in der Ukraine. Hier ging die Front mehrmals über sie hinweg. Deutsche Truppen verdrängten im Februar 1918 die Roten aus der Ukraine, mußten sich aber im November desselben Jahres zurückziehen. Daraufhin nahmen die Banden des Anarchisten Nestor Machno Rache an den Kolonisten für deren Zusammenarbeit mit deutschen Stellen. Der Terror und die Gesetzlosigkeit erreichten ein solches Ausmaß, daß sogar Mennoniten im bewaffneten Selbstschutz kämpften. Im Laufe der Jahre 1919/1920 wurde die Südukraine dreimal von den Weißen erobert und wieder an die Roten verloren, und jeder Angriff brachte Verwüstungen mit sich. Zerstörungen durch den Bürgerkrieg und Epidemien, die ihm folgten, sowie die andauernde Schwächung der Kolonien durch die Zwangsablieferung während der Zeit des Kriegskommunismus (1918 bis 1921) führten zu einem starken Rückgang der Saatflächen. Die widrigen Witterungsverhältnisse und die rücksichtslose Ablieferungspolitik der Verwaltung der ,Arbeiterkommune der Deutschen des Wolgagebietes' ließen aus der Mißernte des Jahres 1920 eine Hungerkatastrophe in den Jahren 1921/1922 werden. Die Nansen-Hilfe, die American Relief Administration, das Deutsche Rote Kreuz, "Brüder in Not" und eine ganze Reihe anderer nationaler und internationaler Hilfsorganisationen lieferten Lebensmittel und Medikamente und schickten Ärzte nach Rußland. Ein Teil dieser Lieferungen erreichte auch deutsche Kolonien. Die Hilfe aus dem Ausland wurde aber erst zugelassen, als die Katastrophe bereits eingetreten war. Allein in den Wolgakolonien sind 1921 mehrere 10.000 Menschen verhungert, über 74.000 sind ausgewandert. Nach amtlichen Angaben verloren die Wolgakolonien 1921 durch Hungersnot und Auswanderung 26,5 Prozent ihrer Bevölkerung." Ein kurzes Aufatmen brachte den Deutschen am Schwarzen Meer das 1918 einrückende deutsche Heer. Doch die deutschen Truppen mußten sich bald aus der Ukraine zurückziehen, und auch hier übernahmen die Bolschewisten die Macht. Nicht viel anders war das Schick-sal der Deutschen im Nord-Kaukasus und Sibirien. Rund 70.000 Deutsche lebten hier noch nach dem Ersten Weltkrieg. Im Süd-Kaukasus verblieben etwa 20.000 Deutsche. Katastrophale Folgen hatte auch hier die bolschewistische Revolution. Die enteigneten Bauern mußten sich in Kolchosen zusammenfassen. Das freie Bauernleben hatte ein Ende. Die Deutschen in Wolhynien lebten gar zeitweise direkt im Kriegsgebiet. Viele Kolonisten mußten ihre Häuser und Äcker, die inmitten der Feuerzone lagen, verlassen. Manche von ihnen wurden, weil sie russische Staatsangehörige waren, nach Deutschland überführt und zu Arbeitsdiensten herangezogen. Zahlreiche Dörfer wurden im Kriegsgebiet vollständig zerstört. Nach Ende des Krieges kamen viele Deutsche in völlig verwahrloste Dörfer zurück, soweit sie den Krieg überstanden hatten. Im polnischen Teil waren sie ungern gesehen, im ukrai- nischen erreichte sie die bolschewistische Revolution. Und das Deutschtum in den Großstädten? Im und nach dem Krieg wurden viele deutsche Lehranstalten zu russischen umgepolt oder geschlossen. Deutsche Erziehungs- und Bildungslehren wurden verbannt. Nach der Machtergreifung der Bolschewisten dominierten auch hier marxistische Lehrpläne und Lehrvorstellungen. Etwa 100.000 Deutsche lebten nach Krieg und Revolutionswirren noch in russischen Städten; vor dem Krieg waren es über 200.000 gewesen. Manche Vorausschauende hatten zu Beginn des Krieges Rußland verlassen. Viele junge Deutsche aus den Städten starben als russische Soldaten und Offiziere. Das deutsche Großbürgertum in den Städten war nach der Oktoberrevolution ebenfalls im Visier der Bolschewisten und wurde erheblich dezimiert. Statt Kleidung nur noch Fetzen am Leib Über den Zustand der sibirischen Mennoniten-Kolonien informierten sich 1924 zwei Abgesandte der Mutterkolonien. Ein Auszug jenes Berichtes (Mennonitische Blätter 1924, 67) über den Besuch im Tomsker und Pawlodarer Bezirk lautet: "Hätten die amerikanischen Brüder nicht sogleich im Herbst 1923 mit der Speisung der Hungrigen begonnen, dann wäre die Lage auch sehr schlimm, ja hätte so schlimm werden können, wie sie bei uns im Süden war. Eine erträgliche Kartoffelernte des vorigen Jahres erleichterte die Lage auch noch: wer nicht Brot hatte, aß Kartoffeln. Eine ziemlich hochgradige Armut war zu sehen. Manche Leute waren so furchtbar arm, daß man sich Schlimmeres beinahe nicht vorstellen kann. Manche hatten kein Stück Vieh mehr im Stall, kein landwirtschaftliches Gerät, überhaupt nichts, was doch zur Wirtschaft gehört. Viele Männer gingen hier in Schafsfelle gekleidet, ohne Wäsche, ohne irgend welches andere Kleidungsstück. Eine praktische Seite ist bei dieser Kleidung aus rohem Schaffell, im Regen dreht man sie mit der Hautseite nach außen und ist so gegen Durchnässen für längere Zeit geschützt. Viele Frauen gingen nur in Fetzen und Lumpen gehüllt; wollten sie in die Versammlung kommen, mußten sie erst sehen, wie sie zu einigen Kleidungsstücken kamen, um sich vor den Leuten sehen lassen zu können. Es gab ja auch noch Nachbarsfrauen, die etwas borgen konnten. Mit den Betten war es ebenso schlecht bestellt. Wir sind da in Häusern gewesen, wo kein Bettgestell, kein Kissen, keine Decke zu finden war. In einer Ecke schliefen die Eltern am Boden auf der Erde, in der anderen die Kinder. Die Kinder hatten in einem Hause noch eine Decke, an welcher der breiteste Streifen zwei Finger breit war! Nur Fetzen! Diese Decke wurde auf die Erde gelegt, zwei Kinder hinaufgelegt und der freie Teil der Decke über die Kinder geschlagen. Auf einem Büschelchen Heu schlief in einer Ecke ohne Kissen und Decke ein zweieinhalbjähriger Bube, der völlig unbekleidete kleine Peter. - In den verschiedenen Rayons sah es verschieden aus; in einigen besser, in anderen schlechter. Zu den besseren gehören: Gljaden, die sogenannten Achtziger Dörfer, einige Dörfer der ,großen Ansiedlung' aus der früheren Orloffer und Chortitzer Wollost. Das Schulwesen liegt hier furchtbar im Argen. Wir trafen manches Dorf, wo schon ein, zwei oder drei Jahre lang kein geregelter Unterricht gewesen war. Die Ursachen waren nicht schwer zu erkennen. Die Armut spielt ja eine große Rolle dabei, aber weil den Gemeinden ein gut Teil der Initiative aus den Händen entwunden ist und oft minderwertige Lehrkräfte angestellt werden, so ist bei vielen das Interesse für die Sache verloren gegangen und so ist's so weit gekommen, wie es jetzt ist, daß die armen Kinder ohne Schulbildung bleiben. In einem Dorfe war die Schule buchstäblich verlassen, nur noch ein Erdhaufen bezeichnete die Stelle, wo einst die Schule gestanden." Schon am 16. April 1919 hatte das bolschewistische "Volkskommissariat für innere Angelegenheiten" verfügt, daß die Wolgadeutschen ein eigenes Gouvernement bilden konn- ten. Doch in den Jahren des Bürgerkrieges und Hungers war dies kaum möglich gewesen. Es ging allein um das nackte Überleben. Als das Schlimmste überwunden war, kam mit der sozialistischen Umwälzung an der Wolga wie in den anderen deutschen Siedlungsgebieten die Zeit der Umverteilung des Bodens und der Bildung von Kooperativen und (Zwangs-)Genossenschaften. Die neue Wirtschaftsform war auch mit der Möglichkeit der Kreditaufnahme verbunden, wovon nicht nur die Mennoniten Gebrauch machten. Auch unter den neuen Bedingungen begannen der Landbau und insbesondere die Rassenviehzucht wieder zu erblühen. Den Mennoniten wurde zwar die Möglichkeit versprochen, einen Ersatzdienst für den Militärdienst zu leisten. Er wurde aber auch auf Antrag hin nur selten und ab 1926 fast gar nicht mehr gewährt. In den Ortsverbänden des "Allgemeinen Mennonitischen Landwirtschaftsverbandes" (AMLV), der in Moskau seine Zentrale hatte, waren nach Meinung der bolschewistischen Herrscher noch zu viele Menschen aus den höheren Schichten. Sie drängten auf stärkere Berücksichtigung der ärmeren Schichten für die Führungspositionen. Nicht nur diesem Druck mußten die Mennoniten nachgeben. Schließlich mußten sie ihre Vereine anderen Nationalitäten öffnen, was ihren Zusammenhalt schwächen sollte. Trotzdem brachte die N.Ö.P., die Neue Ökonomische Politik Lenins, die vorübergehend der eigenen Initiative etwas Raum ließ, nicht nur bei den deutschen Mennoniten, sondern überall in den deutschen Kolonien einen Aufschwung. 1923 war die sowjetische Regierung in Hochstimmung. Nicht nur, daß die schlimmsten Krisenerscheinungen im Inneren überwunden waren. In Deutschland deuteten kommunistische Aufstände in Hamburg, Sachsen und Thüringen darauf hin, daß die ersehnte Weltrevolution voranschreiten werde. Damit sich an der Wolga ein besonders gutes Vorbild für sozialistische Umwälzungen in Deutschland bilden konnte, wurde das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen am 6. Januar 1924 zu einer "Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik" erhoben. Bei der Vollendung der proletarischen Revolution in Deutschland sollte sie Vorbild sein. Aus Deutschland und anderen mittel- und westeuropäischen Staaten sollten Arbeiter- und Bauerndelegationen hierher geholt und von der Überlegenheit des sowjetischen Staats- und Wirtschaftssystems überzeugt werden. Illusion vom Frieden Ab 12. Juni 1924 war in der "Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen" (ASSRdWD) wieder ein Schulwesen in deutscher Sprache möglich, ein eigener Buchverlag durfte eröffnet werden. Auch in den anderen deutschen Siedlungsgebieten durfte wieder in deutscher Unterrichtssprache gelehrt werden. Deutschsprachige Dorfsowjets durften überall in den deutsch besiedelten Gebieten begründet werden. In den Kerngebieten der deutschen Siedler konnten sich die Dörfer zu Rayons (großen Landkreisen) zusammenschließen. An den Gerichten, die sich jetzt "Volksgerichte" nannten, wurde wieder in deutscher Sprache verhandelt. In der "Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik" wurden Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts auch fünf Hochschulen und elf technische Fachschulen gegründet, an denen Deutsche aus allen Siedlungsgebieten studierten. Im wolgadeutschen Ort Engels entstand ein kleines deutschsprachiges Nationaltheater und ein Künstlertheater. Beide dienten freilich nicht nur zur Aufführung deutscher Stücke, sondern auch sozialistischer Agitation und Propaganda. Die zahlreich eingerichteten Kulturhäuser und die deutschsprachigen Zeitungen dienten ebenfalls durchgehend der Verbreitung kommunistischer Meinungen und Ideale. Die Autonomie beschränkte sich auf die Selbstverwaltung, die geistige Ausrichtung der ASSRdWD war streng bolschewistisch. Zwischen den Fronten: Unter den von der deutschen und österreich-ungarischen Armee gefangenen Russen befanden sich im Ersten Weltkrieg auch viele Männer deutscher Herkunft aus den Wolga- und Schwarzmeergebieten Foto: Greve |