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23.08.03 / Am Rande des Paradieses

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. August 2003


Am Rande des Paradieses
von Klaus Weidich

Ein neuer Tag ist angebrochen. Jedoch die Schatten der Nacht schrecken noch mit skurrilen Silhouetten. Längst aber ist in der Heide alles Leben erwacht. Es zirpt hier und es raschelt dort, heimlich und ungesehen, und alle Vogelkehlen pressen schon ihr jubilierendes Lied. In den Pausen aber, da kosten sie vom kühlen Tau, der gleich silbernen Perlen die Flur bedeckt. Aus der Peripherie dunkeln tief geduckt die Umrisse des Örtchens Rominten herüber. Wie Fäden aus feinstem Zwirn steigt der Rauch aus seinen Schornsteinen. Über allem aber dehnt sich ein rosaroter Streifen bescheidener Helligkeit zu den Horizonten. Und wie es plötzlich riecht! Denn gleich einer wohltönenden Melodie trägt ein sanfter Hauch den Geruch von Harz herüber. Und dieser leise Hauch des Windes, er scheint wie das stetige Atmen der Zeit ...

Die Hündin Raja schüttelt ihren Pelz, versucht dabei auch gleichzeitig einen Blick ihres Herrn zu erhaschen. Die Blicke des alten Hirten Jarrek sind aber viel zu abwesend. Sie sind weit in die silbrig schimmernden Fernen gerichtet. Er grübelt, der alte Hirte Jarrek und denkt: Herrje, das sind Bilder! - Um wieviel glücklicher mögen sich die Maler schätzen - ihnen ist es vergönnt, solche Augenblicke stiller Majestät für die Ewigkeit festzuhalten ...

Im nächsten Augenblick ist die Bewunderung für das künstlerische Naturell der Maler erloschen. Der alte Hirte Jarrek zieht ein verächtliches Gesicht: Ach, geh mir doch einer weg! denkt er nun. - Was vermögen sie schon, diese Herren Künstler? Sporadische Augenblicke eines unwiederbringlichen Geschehens mögen sie sicherlich festhalten können. Aber was ist das schon? Irgendwo aus dem Geschehen gerissen ist es nur, ohne das Ganze und Vollständige ahnen zu lassen. Sozusagen als banaler Versuch von Selbstbetrug.

Wiederum zieht der alte Hirte Jarrek ein verächtliches Gesicht: Nein! So denkt er jetzt. - Dafür hat der Schöpfer diese eindrucksvollen Augenblicke nicht geschaffen. Denn dieses wunderbare Schauen ist wie ein kurzzeitiges Öffnen der Tür zum Paradies. "Seht, ihr Menschenkinder, will der Schöpfer uns damit sagen, dieses will ich euch schenken für die Ewigkeit ..." Wie zur Selbstbestätigung nickt der alte Hirte Jarrek: Ja, so ist es! Denkt er dabei, genauso ist es ... Die Hündin Raja umschmeichelt aufs neue den Alten. Stößt ihn mit warmer Schnauze gegen die Hand.

Diesmal krümmen sich die Finger des Alten, umspielen die wattigen Ohren des Tieres. "Schlechtes Gewissen, wie, Raja?" murmelt er dazu. "Fast die ganze Nacht warst du vorgestern unterwegs. Mit dem schwarzen Rüden aus dem Dorf. Glaub nicht, daß ich es nicht wüßte. Luder du ...! Aber wart nur, daran sollst du noch denken. Die Jungen laß ich dir jedenfalls nicht ..." Die Hündin gibt sich wie toll vor Freude. Seit der harten Zurechtweisung für ihren nächtlichen "Ausflug" nun endlich wieder ein freundliches Wort des Alten. Fiepsige Töne stößt sie aus, und die Augen, die der Farbe des Bernsteins ähneln, leuchten nun wieder vor unbekümmerter Lebensgier.

Im Grunde liebt der Alte die Hündin über alles. Niemals zuvor hat er einem seiner Hütehunde so viel an Empfindungen entgegengebracht. Nicht oft genug kann der Alte in die hellen Augen des Tieres schauen. Nicht nur das Wechselspiel von Wachsamkeit und devotem Gottergeben - ihm gegenüber - vermag den Hirten zu fesseln. Viel eher ist es dieser fast feminine Ausdruck dieser hellen Augen. "Fast weibische Augen hat meine Raja", prahlt der Hirte mitunter im Dorfkrug. Und wenn ihn die anderen Männer dann jedesmal verwundert von der Seite her ansehen, wird der Alte trotzdem nicht verlegen. "Ja, ja, lächelt ihr nur. Aber die Schmeichelei und hintergründiger Schalk ist in den Augen meiner Raja zu erkennen. Ganz wie bei den Weibsleuten ..."

Bereits nach einiger Zeit machen sich die Folgen des nächtlichen "Ausflugs" bei der Hündin bemerkbar. Sie wird von Tag zu Tag träger, und ihr Gesäuge nimmt deutlich an Schwellung zu. Der alte Hirte Jarrek betrachtet es mit erneut aufkommendem Unwillen. Ein weit größerer Teil an Arbeit bleibt nun an ihm hängen. Oft genug treibt der Hirte die Tiere mit seinem Stecken selbst von unerlaubten Weidestellen ...

In einer der folgenden Nächte erfaßt die Hündin eine merkliche Unruhe. Schließlich zieht sie sich in einen der stillsten Winkel zurück. Und als der Alte am nächsten Morgen nachschauen geht, da hängen fünf nackte und blinde Welpen an ihrem Gesäuge. Die bernsteinfarbenen Augen der Hündin aber lachen vor Mutterglück, als sie zu dem Alten hinaufschauen. Sie lachen, als wollten sie sagen: "Schau, Hirte! Schau, was ich uns geboren habe!" Die Blicke des Alten verdunkeln sich um so mehr. Bekümmert schüttelt er seinen Kopf: "Nein, nein, Raja! Was weiß ich, ob sie jemals zum Hüten taugen würden ...!" Gegen Mittag des gleichen Tages kommt ein junger, stämmiger Bursche zu dem Alten hinaus. Er trägt Tabak und andere Notwendigkeiten für ihn heran.

Der alte Hirte Jarrek betrachtet das Näherkommen des jungen Burschen mit merklicher Erleichterung. "Christian, gut, daß du kommst!" ruft er ihm zu. "Ist dir dein Tabak schon früher ausgegangen?" gibt der andere zurück. "Nein, nein, aber Raja hat Junge geworfen. Willst du dir einen Taler für Schnaps verdienen. Ich bringe es nicht über's Herz ..."

Der junge Bursche scheint von rauhem Charakter und wenig Empfindsamkeit zu sein. Sein vierschrötiges Gesicht verliert sich in Zufriedenheit. "Wenn's weiter nichts ist, Alter! Gib mir den Taler und die Welpen ..."

Kaum aber, daß sich die Männer auch nur wenige Schritte der Hündin nähern, gebärdet sich diese wie toll. Alles bernsteinfarbene Licht ist aus ihren Augen gewichen. Dafür blitzt unter ihrer Schädeldecke jetzt wütendes Weiß hervor. Selbst die Lefzen sind von den Zähnen genommen, die jetzt erschreckend spitz und gebrauchsfähig zum Vorschein kommen. "Bleib zurück, Christian!" mahnt der alte Hirte, "ich hole die Welpen allein." Die Hündin beruhigt sich im selben Augenblick. Auch das bernsteinfarbene Licht kehrt in ihre Augen zurück. Und wie diese Augen in unverzagter Treue dann zu dem Hirten hinaufschauen, da steht ganz deutlich in ihnen geschrieben: Mach dir keine Sorgen, Hirte! Auf die Jungen passe ich schon auf, da lasse ich niemanden heran. Außer dir natürlich ...

Die Welpen quäken unwillig und wimmern leise, als der Alte sie vom Leib der Mutter nimmt. Kuscheln sich aber danach wohlig in die großen, warmen Hände des jungen Buschen, der sie eiligst davon trägt.

Erregt ist die Hündin aufgesprungen. Nun versteht sie die Welt gar nicht mehr. Von dem einzigen Menschen, dem sie vertraute, läßt sie sich die Jungen nehmen, und dieser übergibt sie unbedenklich demjenigen, dem sie mit gefletschten Zähnen gedroht hatte. Nur barsche Worte des Alten und harte Griffe seiner Hände verhüten Schlimmes. Nur widerstrebend legt sich die Hündin nieder, um mit flackernden Blicken ihren Jungen nachzuschauen ...

Das Nachfolgende aber zerreißt selbst dem alten Hirten Jarrek fast das Herz. Selbst in den Nächten sucht die Hündin nach ihren Jungen. An Schlaf ist für den Alten nicht zu denken. Nicht nur einmal schleicht sich die Hündin zu ihm an das Nachtlager, stößt ihn mit trockener, heißer Nase in die Seiten, und ihr herzerweichendes Seufzen gleicht den Worten: Sag doch endlich, Hirte, daß alles nur ein Spaß von dir war. Nun steh auf! Wir holen die Jungen zurück ...!

Das Gesäuge der Hündin ist seit der Zeit hart geschwollen. Von einer kühlenden Stelle zur anderen schleppt die Hündin ihren peinigenden Schmerz. Doch nicht allein der Schmerz an ihrem Gesäuge ist Anlaß für die Rastlosigkeit der Hündin Raja... Erst nach vielen Tagen stellt die Hündin das Suchen ein. Auch der Schmerz an ihrem Gesäuge ist nicht mehr so peinigend. Dafür liegt sie nun wie in Apathie und fressen will sie immer noch nicht.

Mag sein, daß bereits eine Woche verstrichen ist, als sie zum ersten Mal wieder einen Bissen aus der Hand des alten Hirten Jarrek nimmt. Nur langsam kaut sie den Bissen, und als sie ihn endlich geschluckt hat, da fährt die rosa Zunge wie liebkosend über die Hand des Alten hinweg. Wie Dank für das dargereichte Stück Brot sieht es aus, als die Zunge der Hündin über die alte, derbe Männerfaust hinweggefahren ist. Und daß dieselbe Hand ihr vor Tagen die Jungen entrissen hat, das ist bei der Hündin Raja schon längst in Vergessenheit geraten ...

Fritz Burmann: Blick aufs Meer. Dieses Motiv ist in dem Kalender "Ostpreußen und seine Maler" für das Jahr 2004 zu finden. Burmann, der Westfale, fühlte sich wie viele seiner Kollegen von dem Land im Osten angezogen. Als Nachfolger von Arthur Degner lehrte er zehn Jahre lang (von 1926) an der Königsberger Kunstakademie. Auch dieser Begleiter durch das Jahr enthält wieder viele zauberhafte Motive, die den Betrachter nach Ostpreußen führen und von der unvergleichlichen Landschaft künden. So unterschiedliche Künstler wie Lieselotte Plangger-Popp, Carl Knauf, Norbert Dolezich oder Herbert Guttmann sind mit ihren Werken in dem Kalender vereint. Von Masuren über das Ermland, die Kurische Nehrung bis nach Königsberg und Memel führt die Reise, auf die Maler des 20. Jahrhunderts den Betrachter mitnehmen. Der Kalender "Ostpreußen und seine Maler" 2004 ist für die Leser unserer Zeitung noch bis zum 30. September zum Vorzugspreis von 18 Euro inklusive Versandkosten (später 20,50 Euro) beim Schwarze Kunstverlag, Richard-Strauss-Allee 35, 42289 Wuppertal, Telefon 02 02 / 62 20 05/06, Fax: 02 02 / 6 36 31, zu bestellen.