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30.08.03 / Geschichtsseminar förderte Austausch von Opfern und Historiker

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. August 2003


Vertreibung aus erster Hand
Geschichtsseminar förderte Austausch von Opfern und Historiker

Trotz der tropischen Hitze, die seit Wochen über Deutschland liegt, waren rund 60 Ostpreußen ins Ostheim nach Bad Pyrmont gekommen, um am Geschichtsseminar "Flucht und Vertreibung" teilzunehmen. Sebastian Husen, der Kulturreferent der Landsmannschaft in Hamburg, hatte auch keine Mühe gescheut, um dem Jahrhundertthema "Flucht und Vertreibung" durch Einbeziehung ausländischer Referenten neue Aspekte abzugewinnen. In diesen Tagen, wo das in Berlin geplante "Zentrum für Vertreibungen" heftiger Kritik ausgesetzt ist, kann es nur von Nutzen sein, dieses Thema auch, wie in Bad Pyrmont, aus polnischer und litauischer Sicht zu beleuchten.

Am Vorabend aber las zunächst die 1916 in Königsberg geborene Schriftstellerin Ruth Geede, deren publizistisches Wirken in der "Preußischen Allgemeinen Zeitung" seit 1979, vor allem mit der Rubrik "Die ostpreußische Familie", für die Landsmannschaft ein wahrer Glücksfall ist. Sie hat unzählige Schicksale im Nachkriegsdeutschland verschollener, verschleppter und vermißter Ostpreußen in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und besonders auch nach 1989/90 die in Mitteldeutschland lebenden Ostpreußen an die Landsmannschaft herangeführt. Jetzt, wo sie hochbetagt immer noch unermüdlich recherchiert und schreibt, wäre es eigentlich vermessen, ihre Autobiographie einzufordern, die ganz gewiß ein spannendes Buch werden dürfte.

Der Vortrag Carl Bethkes vom Berliner Osteuropa-Institut über "Vertreibung und ethnische Säuberung als europäisches Problem" geriet in manchen Passagen leider etwas zu akademisch, auch wenn der Referent erschütternde Einzelheiten über das Vertreibungsgeschehen im Ersten Weltkrieg, über die Ausrottung von anderthalb Millionen Armeniern 1915/16 durch die Türken, über die Verschleppung der Rußlanddeutschen nach Sibirien im Zweiten Weltkrieg zu berichten wußte. Die eigene Leiderfahrung wird nicht dadurch geringer, wenn man vom Leid anderer Volksgruppen erfährt. Das, was den Ostpreußen, Pommern, Schlesiern 1945/46 angetan wurde, der Verlust der Heimat, war durchaus nichts Neues in der Geschichte, sondern stand in einer Tradition, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert reichen.

Die 1926 geborene Bauerntochter Hildegard Rauschenbach, die 1945 von Pillkallen nach Sibirien verschleppt worden war, konnte aus eigenem Erleben berichten. Ihr Schicksal hatte sie bereits 1984 in dem Band "Lager 6437. Ich war verschleppt nach Sibirien" geschildert, nach dem Untergang des Sowjetsystems ist sie nach Schadrinsk in Sibirien, in dessen Nähe sie als Holzfällerin und Kolchosearbeiterin drei Jahre eingesetzt war, gefahren und hat danach ihr Buch erweitert und unter dem Titel "Von Pillkallen nach Schadrinsk" 1993 noch einmal erscheinen lassen. Zwei russische Zeitungen in Schadrinsk druckten damals ihre Lagererinnerungen ab. Die dritte Fassung, nach dem Aufsuchen weiterer Erinnerungsorte wie Karthaus im Ermland, erschien 2001 unter dem Titel "Meine Verschleppung nach Sibirien". In Schadrinsk, so erzählte Hildegard Rauschenbach, gäbe es heute einen Gedenkstein für die aus Ostdeutschland verschleppten Frauen, während man in Deutschland selbst für einen solch hart kämpfen müsse. In der Berliner Karl-Marx-Buchhandlung, man hörte es mit ungläubigem Staunen, wurde eine vereinbarte Lesung der Autorin aus ihrem Buch aus politischen Gründen abgesagt.

Auch Luise Kazukauskiene aus der litauischen Hauptstadt Vilnius, die über "Das Schicksal der Wolfskinder" sprach, berichtete aus eigenem Erleben. Trotz ihres litauischen Akzents ist sie Deutsche, geboren als Luise Quietsch im Kirchspiel Keimen im Kreis Labiau und als "Wolfskind" wie Hunderte ostpreußischer Kinder 1945/46 nach Litauen abgewandert, wo es, wenn auch kärglich, zu essen gab. Noch 1991, so erzählte sie, seien 234 ostpreußische Waisenkinder in Litauen registriert worden, davon 92 aus Königsberg, das älteste sei 1928 geboren, das jüngste 1944. Sie hätten nie im Leben Urlaub machen können, seien früh gealtert, oft krank und bekämen keine Renten aus Deutschland, da sie nicht verschleppt worden seien, Ein unbekanntes Kapitel aus der deutschen Nachkriegsgeschichte! Luise Kazukauskiene zumindest hat, als fünftes von sechs Kindern geboren, ihre Geschwister wiedergefunden und versucht, im wiedervereinigten Deutschland über diese Kriegsschicksale aufzuklären.

Der Historiker Witold Stankowski kommt aus Bromberg und hat ein Buch über "Deutsche in Pomerellen und Kujawien" veröffentlicht. Er ist Experte für die polnischen Lager, in die Deutsche wahllos nach dem Krieg eingesperrt waren. Die deutsche Journalistin Helga Hirsch hat darüber 1998 das Buch "Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944 bis 1950" veröffentlicht. Vor 1989, so erklärte der Referent, sei das Thema in Polen kaum bearbeitet worden. Lediglich fünf Bücher habe es gegeben, noch dazu in beschränkter Auflage von nur 250 Exemplaren. Jetzt, wo die Zeitzeugen immer weniger werden, sei die Forschung freigegeben.

Am Abend las Inge Keller-Dommasch aus ihren Kindheitserinnerungen in Ostpreußen.

Die beiden letzten Vorträge am Sonntag morgen hielten Rudolf Pawelka, der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, und Jörg Bernhard Bilke, bis 2000 Chefredakteur der "Kulturpolitischen Korrespondenz" in Bonn. Rudolf Pawelka, der über den "Arbeitskreis deutscher Zwangsarbeiter" referierte, ging auf die Schwierigkeiten ein, die deutschen Zwangsarbeiter in Osteuropa nach 1945 den ausländischen Zwangsarbeitern vor 1945 in Deutschland rechtlich gleichzustellen. Hier würden immer noch politische Rücksichten genommen, obwohl die Lagererfahrungen beider Gruppen durchaus vergleichbar seien. So blieben Briefe an hochrangige Politiker wie den Bundespräsidenten einfach unbeantwortet, und Gesetzesvorlagen würden abgeschmettert.

Jörg Bernhard Bilke konnte das Thema "Flucht und Vertreibung in der deutschen Belletristik" nur in groben Umrissen darstellen, weil die Fülle des Stoffes die Beschränkung auf große Namen wie Siegfried Lenz, Arno Surminski, Horst Bienek, Christa Wolf erzwang. In Westdeutschland wie im SED-Staat habe es zwei Phasen literarischer Aufarbeitung gegeben, wobei in der DDR-Literatur die zweite Phase 1984, um zehn Jahre von der westdeutschen zeitversetzt, beginne, selbst heute, fast 60 Jahre nach Kriegsende, versuchten die Enkel der Betroffenen, die die Ereignisse von 1945/46 nur vom Hörensagen kennen, literarische Antworten auf Flucht und Vertreibung der Großeltern zu finden.

Jörg Bernhard Bilke

Erlebnisberichte von Vertriebenen machten Geschichte lebendig

Flucht und Vertreibung in der Kunst: Neben der bildhaften Darstellung haben sich auch viele Autoren der Aufarbeitung des ostdeutschen Schicksals verschrieben. Foto: Archiv