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06.09.03 / Auf Entdeckungstour in der "Goldenen Stadt"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. September 2003


Prag: Das Herz schlägt wieder
Auf Entdeckungstour in der "Goldenen Stadt" 
von Martin Schmidt

Reisen nach Prag haben Hochkonjunktur. Millionen US-Amerikaner, Deutsche, Italiener, Franzosen und Japaner suchen an der Moldau alljährlich - bewußt oder unbewußt - das ebenso geschichtsträchtige wie prachtvolle Gesicht des alten Mitteleuropas.

Wohl nirgendwo sonst als in Prag legt das Kernland des Kontinents ein beeindruckenderes Zeugnis ab von der einstigen kulturellen Schaffenskraft des Deutschen Reiches, der Donaumonarchie und der mit diesen Mächten eng verwobenen kleineren Völker im Osten.

Viele Besucher der "Goldenen Stadt" werden auf ihrer Reise in die Geschichte fündig und können sich kaum satt sehen an dem weitgehend geschlossenen historischen Stadtbild, das nur an den Rändern ein häßliches Antlitz in Gestalt zahlloser sozialistischer Plattenbauten zeigt.

Andere wiederum sind enttäuscht, wenn sie von ihren Fremdenführern durch die vom Massentourismus gezeichneten Gassen vom Altstädter Ring zur Karlsbrücke geschleust werden oder auf dem Hradschin wegen des beständig hohen Lärmpegels der zahllosen ausländischen Reisegruppen den Zauber dieses Ortes nur noch schwer empfinden können.

Hinzu kommen schlechte Erfahrungen mit Taschendieben an der zu jeder vollen Stunde von dichten Menschentrauben umlagerten weltberühmten Astronomischen Uhr oder ein verständnisloses Schulterzucken angesichts der für so manche Attraktionen (etwa das "Goldene Gäßchen" auf dem Hradschin oder den Alten Jüdischen Friedhof in der Josefstadt) wahrhaft astronomischen Eintrittspreise.

Einige Grundregeln für den Prag-Reisenden können derartigen Enttäuschungen vorbeugen und den Aufenthalt in der böhmischen Metropole zum unvergeßlichen Erlebnis machen.

Zunächst sollte man seinen westlichen Wohlstand keinesfalls zur Schau stellen, eventuelle Blickfänger für Diebe (Schmuck, Handtaschen, Fotoapparate) daheim lassen oder nach Möglichkeit nicht offen herumtragen.

Dann sollte man sich nur sofern unbedingt nötig im Bereich des "Touri-Trampelpfades" zwischen Altstädter Ring und Karlsbrücke aufhalten. Dieses Gebot gilt nicht nur der Taschendiebe und der entzauberten Atmosphäre wegen, sondern auch eingedenk der vergleichsweise unverschämten Preise für Mitbringsel aller Art oder in Cafés und Restaurants.

Abseits des großen Trubels lebt man demgegenüber in Prag für deutsche Verhältnisse nach wie vor erstaunlich günstig. Ein üppiges Essen einschließlich Getränk (das stets hervorragende böhmische Bier verdient natürlich besondere Aufmerksamkeit) kostet beispielsweise im Stadtteil Smíchov auf der westlichen Moldauseite üblicherweise zwischen 60 und 80 Kronen. Bei einem aktuellen Umtauschkurs von 30:1 sind das kaum mehr als zwei Euro.

Wer gut zu Fuß ist, bewegt sich im weiteren Umfeld der Innenstadt am besten per pedes. Die Größe der Stadt erlaubt dies noch, und man sieht aus dieser Perspektive am meisten. Ansonsten bieten sich drei verschiedene U-Bahn-Linien oder die zahlreichen Busse und Straßenbahnen an, die von den Einheimischen stark genutzt werden, zumal man in Teile der Altstadt mit dem Auto überhaupt nicht hineinkommt.

Wer in der Metro fährt, dem fällt auf, daß sich die Menschen dort durchaus anschauen, also nicht abwesend in einer Zeitung blättern oder ins Leere starren, wie dies zum Beispiel für Berlin typisch ist. - Die Moldaustadt ist nun einmal kein Moloch wie die deutsche Hauptstadt oder wie Paris und London, sondern eine noch überschaubare, nicht allzu anonyme Metropole. Auch das macht etwas von ihrem Zauber aus.

Touristisch beginnt ein wirklich gelungener Aufenthalt in der tschechischen Kapitale dort, wo das Programm der Kaffeefahrten und auch seriöser Reiseveranstalter normalerweise endet. Nämlich da, wo man viel Zeit hat, nicht eine Sehenswürdigkeit nach der anderen "abhakt" und sich zumindest gelegentlich treiben läßt.

Dann gibt es unendlich viel zu entdecken, etwa den Abstieg vom Hradschin durch die malerische Nerudagasse in das Botschaftsviertel auf der Kleinseite. Deutsche Besucher sollten dort unbedingt einen Blick von der Rückseite in den Park der deutschen Vertretung im Palais Lobkowitz werfen. Dieses ist weit und breit das repräsentativste Gebäude (das sogar die nahegelegene US-Botschaft in den Schatten stellt), und man befindet sich zudem an geschichtsträchtiger Stelle.

Genau hier standen im September 1989 Tausende DDR-Bürger, ehe sie über den Zaun auf das Botschaftsgelände kletterten, wo ihnen am 30. September Außenminister Genscher das erlösende Ergebnis heikler Verhandlungen übermittelte: 5000 Prag-Flüchtlinge durften in Sonderzügen über die DDR nach Westdeutschland ausreisen. Das dramatische Geschehen trug seinen Teil dazu bei, den Untergang des SED-Staates zu beschleunigen. Zur Erinnerung ist im Garten des Palais Lobkowitz ein goldlackierter Trabbi aufgestellt.

Darüber hinaus fasziniert in dieser Gegend der "unbekannte" Blick auf den Hradschin, der die Vermutung nahelegt, daß die Verfasser von Reiseführern oft voneinander abkupfern und immer wieder nur die berühmte Ansicht von der Karlsbrücke aus abbilden.

Apropos Blick: Von der Kleinseite lohnt der Aufstieg auf den Laurenziberg (Petrín). Der Weg führt durch wildromantische Obstwiesen. Alternativ verkehrt eine Zahnradbahn zum Areal der Prager Industrieausstellung von 1891. Dort findet man einen 60 Meter hohen Nachbau des Eiffelturms. Es lohnt sich, die vielen Treppen auf sich zu nehmen, denn am Ende lockt ein herrlicher Rundblick. Man sieht die Moldaubrücken, die grün durchwirkte Kleinseite sowie die Alt- bzw. Neustadt am anderen Flußufer. Keine Hochhäuser von Banken oder Versicherungen beeinträchtigen das Bild (die kommunale Baubehörde leistet offenbar gute Arbeit!).

Linker Hand erstreckt sich der riesige Hradschin und noch weiter westlich das ebenfalls stattliche Kloster Strahov mit seinem berühmten Bibliothekssaal. Im Hintergrund befindet sich mit dem Strahov-Stadion das weltweit größte Leichtathletikstadion (Fassungsvermögen: 200 000 Personen), in dem zu kommunistischer Zeit die Spartakiaden stattfanden.

Im Baedeker nicht einmal erwähnt, ist der Stadtteil Weinberg (Vinohrady) ein Geheimtip für Architekturliebhaber. Um 1900 entstanden, stehen dort straßenweise wundervolle Jugendstilhäuser, ein sehenswertes Jugendstiltheater und - für den, der länger sucht, - die Reste eines großen evangelischen deutschen Friedhofs.

Während die Spuren der (deutschsprachigen) Juden und natürlich der Tschechen für Touristen offenliegen, sind jene der bis 1945 vor Ort beheimateten Deutschen weitgehend getilgt. Dabei ist das Prag, wie es heute bewundert wird, das kulturelle Produkt einer langen Symbiose aller drei Gruppen.

Noch im Jahre 1857 haben die Deutschen immerhin 50 Prozent der Einwohner gestellt, bevor der massenhafte Zuzug von Tschechen infolge von Industrialisierung und Eingemeindungen sie zu einer Minderheit von kaum mehr als fünf Prozent machte. Dennoch blieben sie bis zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ein fester Bestandteil des Stadtbildes. Doch der Verfasser konnte auf seinen ausgedehnten Erkundungstouren keinerlei direkte Hinweise auf ihr Wirken entdecken.

Dafür sind die Zeugnisse heutiger Einflüsse - namentlich des Kapitalismus amerikanischer Prägung und der schnellebigen westlichen Massenkultur - um so präsenter. Am auffälligsten sind sie am Wenzelsplatz, wo sich Banken und Schnellimbißbuden aneinanderreihen und abends grelle Neonschilder ins Auge stechen.

Biegt man allerdings in eine beliebige Querstraße ab, so ist es wieder das "ewige", das historische Prag, das einen in den Bann zieht.

Oder man stößt parallel zum Wenzelsplatz auf andere symbolträchtige Stätten neuerer Zeit wie das Gebäude der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens in der Straße Politikych Veznu, das - eigentlich alt und prächtig - mit seiner grauen, nicht restaurierten Fassade in krassem Gegensatz steht zum sonst frisch aufpolierten Glanz der "Goldenen Stadt". Auch das über dem Eingang prangende Parteisymbol der zwei leuchtend-roten Kirschen vermag in diese Tristesse keine Farbe zu bringen.

Sollte bei einer Prag-Reise das Wetter nicht mitspielen, gibt es außer den genannten Rundgängen die Möglichkeit, einige der über 20 Museen zu besichtigen (etwa das Nationalmuseum, das Mucha-Museum oder das Spielzeugmuseum auf dem Hradschin), oder sich mehrere der in der Musikstadt Prag obligatorischen Konzert- und Opernbesuche zu gönnen.

Einmalig für die Moldaustadt ist das "Schwarze Theater", bei dem sich Ballettänzer vor einem pechschwarzen Bühnenhintergrund zu phantasievollen Choreographien bewegen und fluoreszierende Gegenstände für die Augen der Zuschauer sozusagen frei schweben lassen. Der Autor empfiehlt nachdrücklich einen Besuch des in dieser Tradition stehenden Image-Theaters in der Pariser Straße unweit vom Altstädter Ring.

Wer im Anschluß an einen solchen Kunstgenuß noch ein wenig durch die beleuchtete Innenstadt bummelt, spürt deutlich, wie kräftig das Herz der mitteleuropäischen Metropole Prag seit der "Samtenen Revolution" von 1989 wieder schlägt und wie diese Stadt auch jenseits des Massentourismus (der eine Menge dringend benötigtes Geld bringt) weiter "lebt" - mit allen ihren Licht- und einigen wenigen Schattenseiten.

Goldlackierter Trabi im Botschaftspark

Prager Ansichten: Altes zweisprachiges Straßenschild auf der Kleinseite und Blick vom östlichen Moldauufer auf Hradschin und Veitsdom Fotos: Schmidt