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13.09.03 / Polen: Neues "Schmuddelkind"

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. September 2003


Polen: Neues "Schmuddelkind"
Kein anderes Land westlich des Bugs hat solche Müllprobleme 
von Dietmar Stutzer

Ab Mai 2004 besitzt die Europäische Union durch nur eines der neuen ostmitteleuropäischen Mitglieder einen Müllberg, der um jährlich 800 Millionen Tonnen größer ist als ihr eigener.

Das künftige "Schmuddelkind" der Staatenfamilie heißt Polen. Es übertrifft mit seiner Abfallproduktion von 1,7 Milliarden Tonnen pro Jahr auf eine Fläche von 312 000 qkm und bei 38,6 Millionen Bürgern das Gesamtaufkommen der heutigen 15er Union (2,4 Millionen qkm, 347 Millionen Einwohner) mit zuletzt gut 932 Millionen Tonnen pro Jahr deutlich.

Kein anderer Staat zwischen Atlantik und Bug hat ein solches Müllproblem. Zu allem Überfluß ist ein funktionierendes Abfallwirtschaftssystem kaum erkennbar. Neben dem Bergbau mit seinen Schlämmen und Spülrückständen aus Kohle, der besonders abfall- und teils auch kontaminierungsträchtig ist, sind die Bau-, Schwer- und Chemieindustrie die wichtigsten Müllerzeuger des Landes, ergänzt durch die Siedlungs- und Kommunalwirtschaft.

80,6 Prozent der gesamten Industrieabfälle kommen aus sechs Regionen: Kattowitz, Liegnitz, Waldenburg, Stettin, Krakau und Tarnobrzeg (Industriestadt am Mittellauf der Weichsel). Nur etwa die Hälfte davon ist in der Vergangenheit wiederverwendet worden, und zwar hauptsächlich zu Straßenbefestigungen oder zum Auffüllen von Bergbaugruben.

Gegenwärtig gibt es ungefähr 650 Hausmülldeponien sowie schätzungsweise 10 000 "wilde Deponien", die nicht selten in Naturschutzgebieten, hochwassergefährdeten Regionen und sogar in Wohngebieten vor sich hin qualmen und stinken. Ein System für getrennte Müllsammlungen besteht nur für Altglas und Altpapier.

Auch die kommunalen Abfälle werden nahezu ausschließlich deponiert, wobei lediglich ein Zehntel aller Deponien Kontrollen unterliegen. Die Kompostierung spielt mit 1,5 Prozent des Gesamtmülls eine untergeordnete Rolle.

Von den Jahr für Jahr angesammelten rund 3 Millionen Tonnen "Sonderabfällen" - nach polnischer Lesart sind dies Substanzen, die negative Veränderungen in lebenden Organismen herbeiführen können, - werden bloß 15 bis 20 Prozent beseitigt. Außer einigen chemischen Hilfsstationen in Betrieben der Chemieindustrie gibt es keine zentralen Abfallbeseitigungsanlagen. Somit können auch nur geringe Mengen von Sonderabfällen aufgenommen und als Gefahrenquelle neutralisiert werden.

Für die Siedlungsabfälle gilt ähnliches: Obwohl eine erste Hausmüllverbrennungsanlage bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Posen errichtet wurde und noch bis in die 50er Jahre in Betrieb war, gibt es heute solche Anlagen nicht mehr. Damit bleiben die Deponierung bzw. das "wilde" Ablagern als einzige Möglichkeiten, den häuslichen Müll loszuwerden.

Das Umweltrecht wurde in Polen zum ersten Mal 1980 in einem umfassenden Regelwerk zusammengefaßt. Dieses enthält aber nur allgemeine Bestimmungen über "den Schutz der Umwelt vor schädlichen Abfällen", jedoch keine anwendbaren Klauseln, die den Bereich des Sondermülls regeln und dazu beitragen, dessen Aufkommen zu verringern.

Staatlicherseits verordnete Umweltabgaben wurden von den polnischen Betrieben lange Zeit wegen ihrer Geringfügigkeit als unwichtige, leicht zu begleichende Steuern angesehen. Unternehmen sind eher bereit, Abwassergebühren etc. zu entrichten als in Umweltanlagen zu investieren.

Lächerlich niedrig sind beispielsweise auch die Abgaben für teilweise in die Kanalisation gelangendes Sickerwasser. Das ist einer der Gründe, warum die den Hausmüll betreffende öffentliche Abfallwirtschaft durch die Warschauer Regierung erheblich bezuschußt werden muß.

Die trotzdem viel zu geringe Kapitalausstattung bewirkte eine Unterentwicklung der Gemeindeinfrastrukturen; über die Hälfte von ihnen haben keine angemessenen Sickerwasser-Aufbereitungsanlagen. Immer mehr Großstädte klagen über Mängel bei der Wasserversorgung und über Trinkwasser von niedriger Qualität.

An der Finanzierung des Umweltschutzes in Polen sind in erheblichem Umfang andere Staaten (USA, Schweden, Finnland, Niederlande, Österreich, Bundesrepublik Deutschland usw.) und internationale Organisationen wie die Europäische Union oder die Weltbank beteiligt. Der Wert dieser Hilfen betrug seit 1990 etwa 600 Millionen Dollar. Noch wichtiger als der Umfang ist aber die Möglichkeit des Technologietransfers und Erfahrungsaustausches.

Die angestrebte Neuausrichtung der nationalen Abfallwirtschaft wurde überhaupt erst durch Kredite der Weltbank und anderer Geldinstitute wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Gang gebracht. Hinzu kommen nicht rückzahlbare Unterstützungen aus dem "Phare-Programm" der EU in Höhe von rund 60 Millionen Euro. Vorgesehen sind der Aufbau einer Müllverbrennungsanlage in Zentralpolen sowie die Konstruktion einer Bleischlamm und -staub verarbeitenden Einrichtung in Niederschlesien. Dank Unterstützung aus Brüssel konnte man außerdem mit dem Bau einer Verbrennungsanlage für chemischen Giftmüll, einer Hausmüllverbrennungsanlage in Warschau und einer Ausbildungsstätte für Umwelttechniker beginnen.

Darüber hinaus haben die meisten polnischen Unternehmen die Absicht bekundet, moderne schwedische Technologien im Bereich der Abfallwirtschaft und hier speziell beim Recycling anzuwenden. Doch das sind nur Absichtserklärungen, die mit der Realität wenig zu tun haben. Denn dort gilt es festzuhalten, daß die Wirklichkeit der Müllbeseitigung in Polen davon bestimmt wird, daß die entsprechenden Rechtsgrundlagen wegen ihrer Unklarheit und definitorischen Unzulänglichkeit kaum anwendbar sind.

Es ist bezeichnend, daß für Verpackungen aus dem pharmazeutisch-medizinischen Bereich oder der Agrarchemie keine besondere Definition existiert. Diese Abfallart wird nicht einmal gesondert erwähnt und findet letztlich die gleiche Behandlung wie Milchtüten oder Bonbonpapier.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Polen es eigentlich geschafft hat, eine "Annäherung" an die EU-Umweltstandards zu erreichen, die den Abschluß der Beitrittsverhandlungen erst ermöglichte. - Vielleicht weil die Standards der Europäischen Union gerade dort, wo der Beitrittskandidat die größten Mängel aufweist, nämlich beim Industrie- und Kommunalabfall, nicht viel konsistenter sind als die schwammigen polnischen.

Wie dem auch sei, was die gesamtstaatlichen Modernisierungspläne angeht, ist es höchst fraglich, ob diese ohne weitere Finanzhilfen aus dem Ausland zum Abschluß gebracht werden können.

Selbst wenn nur vorläufige Lösungen für die Übernahme der EU-Richtlinien in der Abfallwirtschaft erreicht werden sollen, müssen von Brüssel aus weit größere Initiativen als bisher erfolgen. Angesichts immer leerer werdender Kassen dürfte dies jedoch einer Quadratur des Kreises gleichkommen.

10.000 wilde Deponien qualmen und stinken vor sich hin

Schwierige Union: Polen kann die Angleichung an die EU-Umweltstandards nur mit massiver ausländischer Hilfe schaffen

Bild: "Grenzübergang - die optimistische Version" von Wieslaw Smetek