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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. September 2003 |
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Der Mann der ersten Stunde Unter dem Dirigenten Scherchen startete der ostpreußische Rundfunk von Ruth Geede Alles tönt, selbst das Schweigen" stand an der Balkonbrüstung im Großen Senderaum des Rundfunkhauses in Königsberg. Als es vor genau 70 Jahren gebaut wurde, hieß es Ostmarken-Rundfunk-Haus - kurz OragHaus -, erst 1934 erfolgte die Umbenennung in Reichssender Königsberg. Der Bau galt damals als das modernste Funkhaus Deutschlands, vor allem der Große Senderaum begeisterte jeden Chorleiter und Dirigenten. Einer der größten deutschen Dirigenten der damaligen Zeit war da allerdings nicht mehr in Königsberg: Professor Hermann Scherchen hatte bereits 1931 Abschied von Königsberg genommen, und 1933 verließ er auch Deutschland. Was er aber in den drei Jahren seiner Tätigkeit in Königsberg geleistet hat, hat sich als wichtiges Kapitel in die neuzeitliche Kulturgeschichte der Stadt eingeschrieben. Scherchen bestimmte eine Kurzepoche des Königsberger Musiklebens und festigte damit den historisch begrün- deten Ruf der ostpreußischen Metropole als Musikstadt von hohem Rang. Als Hermann Scherchen 1928 nach Königsberg kam, fand er zwei bedeutungsvolle Aufgaben vor: Er wurde Leiter des städtischen Symphonieorchesters und "musikalischer Oberleiter" am Ostmarken-Rundfunk. Aus den vier Musikern der ersten Stunde des neuen Mediums - als eigentliche Geburtsstunde des ostpreußischen Rundfunks gilt die Eröffnungsfeier im Juni 1924 - war ein 18-Mann-Orchester geworden, das aber nicht ausreichte, um die Erwartung an ein anspruchsvolles Musikprogramm zu erfüllen, die nicht nur die Hörer, sondern auch der Sender sich selbst gesteckt hatte. Der neue Generalmusikdirektor fand hier ein bereits eingesätes Feld, auf dem er in den drei Jahren seiner Tätigkeit in Königsberg reiche Ernten einbringen konnte. Hermann Scherchen, 1891 in Berlin-Schöneberg als Sohn eines Gastwirtes geboren, erhielt zwar schon früh Musikunterricht, erlernte aber weitgehend autodidaktisch die Grundlagen der Musik. Der Bratschist übernahm bald den Dirigen-tenstab: 1912 dirigierte Scherchen erstmals öffentlich im Rahmen der Uraufführungstournee von Schönbergs "Pierrot lunaire". Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging der Dreiundzwanzigjährige als Zweiter Kapellmeister nach Dubbeln bei Riga. Aus dem festen Engagement wurde nur ein kurzes Gastspiel, denn Scherchen kam als russischer Zivilgefangener in ein Lager im Ural. Nach vierjähriger Gefangenschaft, in der er das Ende des Zarenreiches und den Beginn des bolschewistischen Regimes erlebte, was bei ihm tiefe Eindrücke hinterließ, kehrte Scherchen nach Berlin zurück. Er begann wieder seine Tätigkeit als Dirigent aufzunehmen, leitete unter anderem Symphoniekonzerte in Frankfurt, bis ihn der Ruf nach Königsberg erreichte. Scherchen erfüllte die an ihn gestellten Erwartungen, eine neue musikalische Ära für Königberg zu schaffen, mit großem Engagement. Seine Doppelfunktion als Leiter der Symphoniekonzerte und des nun auf 59 Musiker erweiterten Orag-Orchesters führte dazu, daß der Rundfunk die Betreuung der Symphoniekonzerte übernahm. Königsberg war damals die einzige deutsche Stadt, die finanziell an einem Sender beteiligt war. Er stiftete - dank der Mittel der Orag - den Bund für Neue Tonmusik, der große Orchesterkonzerte ermöglichte. Als ein Beispiel für die neue Blütezeit in dem stark auf klassische Musik ausgerichteten Musikleben Königsbergs - hier am Pregel dirigierten Richard Strauss und Hans Pfitzner Aufführungen eigener Opern, Namen wie Siegfried Wagner, Max von Schillings, Siegfried Ochs und Paul Hindemith schrieben sich in das Gästebuch der Stadt ein, Knappertsbusch und Furtwängler führten den Dirigentenstab - mag hier die Aufführung der Oper "Doktor Faust" von Ferruccio Busoni stehen. Der Komponist und Dichter des Werkes war vier Jahre tot, als Scherchen sein Werk als "Sende-oper" der Orag am 23. Januar 1929 zur Aufführung brachte. Er zeichnete für die Gesamtleitung und "radiodramaturgische Bearbeitung" - allein dieser Begriff zeigt, wie wichtig das neue Medium Rundfunk für den Generalmusikdirektor war - verantwortlich. Scherchen holte für die Aufführung nicht nur hervorragende Künstler aus der Stadt, sondern auch Sänger aus Berlin, Dresden und Karlsruhe. Die Aufführung schrieb Rundfunkgeschichte. Den Höhepunkt seines Wirkens erlebte Scherchen im Jahre 1930 auf dem von ihm initiierten Tonkünstlerfest des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Königsberg, auf dem zum ersten Mal das von ihm aufgebaute große Rundfunkorchester spielte. Es wurde auf alle deutschen Sender übertragen. Nach diesem für die Musikstadt Königsberg so bedeutenden Ereignis wurde der Generalmusikdirektor Hermann Scherchen zum Ehrendoktor der Königsberger Universität, der Albertina, ernannt. Seine Symphoniekonzerte erregten Aufsehen, aber auch Kritik. Liebhaber klassischer Musik wa- ren über seine "neuen Klänge" schockiert. So konnte man über die von ihm dirigierte Missa Solemnis von Beethoven lesen, daß "Scherchen mit seiner weniger katholisierenden als allgemein menschlichen Auslegung des Werkes einen gewaltigen Schlußstein an das stattliche Gebäude seines hiesigen öffentlichen Wirkens setzte". Aber da hatte der Generalmusikdirektor schon seinen Abschied von der Pregelstadt eingeleitet. Vielleicht führten Differenzen mit namhaften Persönlichkeiten aus dem Königsberger Musikleben zu der so frühen Been- digung seines Musikschaffens in der ostpreußischen Metropole, vielleicht sah er auch seine Aufgabe erfüllt. Scherchen ging 1931 nach Berlin. Ein Jahr später wurde die Orag von der Reichsrundfunkgesellschaft übernommen. Das neue, der damals aktuellsten Rundfunktechnik entsprechende, großflächige "Orag-Haus" am Hansaring wurde am 30. November 1933 bezogen. In dem großzügig gestalteten Großen Senderaum aber standen nun andere am Dirigentenpult. Scherchens weitere musikalische Laufbahn führte zu internationalem Ruhm. Der in der Schweiz Wohnende dirigierte in ganz Europa und in China, wo er 1936 seine dritte Frau Hsiao Shusien heiratete. Ihre gemeinsame Tochter Tona Scherchen-Hsiao wurde eine bekannte Komponistin. Gastspiele führten ihn nach Israel und Amerika, aber auch in die sowjetischen Metropolen. Immer wieder versuchte er sein Engagement für die zeitgenössische Musik zu institutionalisieren. Mitten im Zweiten Weltkrieg unterrichtete er in der Dirigentenklasse am Berliner Konservatorium. 1954 richtete Scherchen an seinem Wohnsitz in Gravesano ein Experimentalstudio zur Erforschung der Schallplatten-, Radio- und Fernsehtechnik ein. Hermann Scherchen starb 75jährig am 12. Juni 1966 in Florenz. Er hinterließ seine vierte Frau Pia Andro- nescu, mit der er fünf - seiner insgesamt neun - Kinder hatte. Das Rundfunkhaus in Königsberg hat schwer beschädigt die Kriegs-und Nachkriegszeit überlebt. Es steht noch heute am Hansaring. Dank Scherchen erlebte Königsberg eine neue Blüte der Klassik Erlebte Höhepunkt seines Wirkens in Königsberg: Dirigent Hermann Scherchen Foto: Archiv |