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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. September 2003 |
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In Europa angekommen Vor Ort: Elimar Schubbe über das EU-Referendum in Estland und Lettland Jah. Me tuleme! - Ja. Wir kommen! Auf einem kornblumenblauen Plakat fliegt eine goldene Schwalbe hinauf zu einem goldenen Stern. Unten steht nur ein Satz: "Jah. Me tuleme!" Dieses symbolträchtige Plakat - die Kornblume ist Estlands Blume, die Schwalbe der Nationalvogel, und der Stern steht sinnbildhaft für die Europäische Union - ist in seiner eindrucksvollen Schlichtheit überzeugender als das großflächige Plakat mit dem Ministerpräsidenten Parts, der für den Beitritt zur EU wirbt. "Jah. Me tuleme!" - Am Abstimmungsabend, als er zusammen mit Staatspräsident Arnold Rüütel und Parlamentspräsidentin Ene Ergma vor die internationale Presse tritt, findet Juhan Parts die Worte: "Wir kehren zurück - um zu bleiben. Der Frühling ist gekommen." Er dankt dem alten und dem neuen Präsidenten - Lennart Meri, der sich im Ausland unermüdlich für die Einbindung Estlands in die freie europäische Staatengemeinschaft eingesetzt hat, und Arnold Rüütel, dem letzten Präsidenten des kommunistischen Obersten Sowjet Estlands, der gleichfalls unermüdlich unter der europaskeptischen Landbevölkerung, bei der er hohes Ansehen genießt, für das Ja geworben hat. Und nun 66,92 Prozent! Auch die abstimmungsberechtigten russischsprachigen Bürger des Landes gaben mit großer Mehrheit ihr Jawort - selbst in Narwa (mit weniger als fünf Prozent Esten) stimmten die Wähler mit 51,3 Prozent für Ja. Wieso eigentlich? Trauern denn nicht viele Russen, Weißrussen und Ukrainer, die Moskau zu Hunderttausenden ins Land geholt hatte, um es zu russifizieren, ihrer einstigen Herrenrolle nach? Der frühere Außenminister Toomas Hendrik Ilves hatte vor zwei Jahren, als sich bei dieser großen Minderheit in Umfragen eine mehrheitlich positive Einstellung zur EU abzeichnete, etwas flapsig gesagt: "Na, ja. Die Russen mögen eben Unionen." Aber ernsthafter: Wer von ihnen in Narwa über die Brücke gehe, um seine Verwandten zu besuchen, komme garantiert als estländischer Patriot zurück. Und gewiß haben viele Russen für den EU-Beitritt stimmen wollen, weil sie sich unter dem Schutz der Europäischen Union sicher fühlen vor möglichen estnischen Ressentiments. Trotzdem war man besorgt - in Estland und in Lettland -, wie sich wohl diese Wähler am Abstimmungstag verhalten würden. Die sich nach außen zuversichtlich gebende lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga soll noch kurz vor dem Referendum ihrer Regierung die Leviten gelesen haben, weil im Gegensatz zu Estland von einer Europa-Kampagne kaum etwas zu spüren war. Auch Lennart Meri war besorgt. Noch am Vorabend der Abstimmung in Estland versammelte er in seinem Hause auf der Halbinsel Viimsi nahe Reval lettische Journalisten, um ihnen klarzumachen, welche Folgen ein Nein für Lettland hätte. Für Estland hatte es Kalev Kukk, einer der Väter der Estnischen Krone und der neuen Marktwirtschaft - und inzwischen Aufsichtsratsmitglied der Nationalbank - in brutaler Offenheit gesagt: Über vier Milliarden Euro hätten in den letzten Jahren westliche Unternehmen in Estland investiert, im Vertrauen darauf, daß dieses Land Mitglied der EU würde. Bei einem Nein könne man sich leicht ausrechnen, daß dieses Kapital Schritt um Schritt wieder zurückgezogen würde. Russisches Kapital käme dann ins Land - und in wenigen Jahren wäre Estland auf den Standard von Weißrußland oder Moldawien abgesunken. Eine ähnliche Entwicklung wäre auch die Zukunftsperspektive für Lettland. Ob denn der große russische Markt nicht locke? Ein führender estnischer Unternehmer gibt eine knappe, aber erschöpfende Antwort: Der russische Markt sei groß, sehr groß sogar, aber er habe keine Kaufkraft. An der Notwendigkeit, die Westbindung zu festigen, gibt es daher bei der estnischen wie auch bei der lettischen Wirtschaft - und natürlich bei der jungen Generation, die sich europaweite Chancen ausrechnet - keinerlei Zweifel. Der Internationale Währungsfonds sagt für Estland in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von mindestens 4,5 Prozent voraus, für 2004 sogar von 5,5 Prozent. Diese Entwicklung gründet sich natürlich auf die zurückhaltende Steuerpolitik (Steuersatz 26 Prozent mit abnehmender Tendenz) und die liberale Wirtschaftsordnung. Das international renommierte Cato Institut und gut 50 weitere weltweit tätige Wirtschaftsinstitute, die 123 Staaten auf die Liberalität ihrer Wirtschaftssysteme untersuchen, haben inzwischen Estland auf Platz 16 gesetzt - deutlich vor Deutschland, Norwegen, Schweden und Japan. An der Spitze stehen Hongkong, Singapur und die USA, in Europa Großbritannien. Im Restaurant Eesti Maaja, wo die Vaterlandspartei Isamaaliit, die estnische Partnerpartei der CDU, ihre Party feiert, treffe ich am Referendumsabend Mart Laar. 1992 hatte er als erster frei gewählter Ministerpräsident nach Jahrzehnten sowjetrussischer Okkupation die Weichen gestellt - zur Marktwirtschaft, zur Nato, zur Europäischen Union. Ob er jetzt sein politisches Lebensziel erreicht habe? "Gewiß. Es ist ein schönes Gefühl, sagen zu können, ich habe meine Arbeit für Estland getan." Doch dies ist kein persönliches Rückzugssignal. Im Gegenteil: Jetzt komme es darauf an, daß Estland konsequent und selbstbewußt eine eigenständige Rolle in Europa spiele, betont er nachdrücklich. Ob das Abstimmungsergebnis einen neuen Schub für die Wirtschaft geben werde? "Nicht schon morgen, aber in zwei oder drei Jahren ganz sicher." Ob er hoffe, daß die deutsche Wirtschaft, die bisher mit einem Anteil von gerade 2,5 Prozent in Estland investiert habe, sich nun mehr engagieren werde? "Ach, das liegt allein an den deutschen Investoren. Wenn sie nicht schnell kommen, ist es bald zu spät." Ich möchte wissen, was Laar von der Europäischen Union erwartet. Laar: "Ich stelle die Frage andersherum - was wird Estland für Europa tun?" Denn dies bleibe unverrückbar wichtig, "daß Estland auch künftig seine Zukunft selbst gestaltet. Estland kann die neuen Rahmenbedingungen nutzen, aber unsere Zukunft werden wir aus eigener Kraft mit unserer eigenen Arbeit und mit unseren eigenen Ideen gestalten. Das bleibt entscheidend." Dieses Selbstbewußtsein, das allen estnischen Politikern eigen ist, die für den EU-Beitritt eintreten, bestimmte auch am Freitag vor der Abstimmung beim großen Konzert "Tour d'Europe" vor dem mittelalterlichen Revaler Rathaus die Atmosphäre. Unter den Zuhörern waren es die jungen Leute, die "Jah"-Buttons verteilten, Blau-schwarz-weiße Fähnchen, Flugblätter und Luftballons für das Ja. Die wenigen "Ei"-Schilder (nein) wurden nur von älteren Leuten gehalten. Ein einsamer KP-Veteran klammerte sich an die von den Esten verachtete sowjet-estnische Fahne. Keiner beachtete ihn. Auf einer großen Leinwand wurde zu jedem Musikstück ein charakteristisches Bild aus jenem Lande gezeigt, dessen Musik dann über den riesigen Rathausplatz klang. Dazu sprach jedesmal ein prominenter Este Worte zu Europa. Als Saksamaa (Deutschland) auf der Leinwand erschien, grüßte der Kölner Dom die vielen tausend Zuhörer, und das estnisch-finnische Symphonie-Orchester spielte unter leidenschaftlicher Hingabe der jungen bildschönen blonden estnischen Dirigentin Anu Tali Johann Sebastian Bachs "Air". Sie symbolisierte wie jene jungen Letten, die sich mit ihrer Fahne unter die Zuhörer mischten, die junge Generation dieser beiden Völker - selbstbewußt, engagiert und zuversichtlich. Eine Woche nach dem estnischen Ja kam mit 67 Prozent das Ja aus Riga. Die Letten hätten, so sagte es Vaira Vike-Freiberga in der Nacht zum Sonntag, wie die Esten "eine neue Seite im Buch ihrer Geschichte aufgeschlagen". In diese Seite wollen sie dreierlei hineinschreiben - die Sicherung ihrer nationalen Existenz, den wirtschaftlichen Aufstieg zum Wohle ihrer Kinder und ihren aktiven Beitrag zur Zukunftsgestaltung des alten Kontinents. Russen trauern ihrer Herrenrolle im Baltikum nach "Wir schlagen eine neue Seite im Buch unserer Geschichte auf" Auf dem Weg nach Europa: Vaira Vike-Freiberga kämpfte vor der Volksabstimmung entschieden für den Beitritt Lettlands zur EU. Foto: dpa |