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27.09.03/ Die ostpreußische Familie

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. September 2003


Die ostpreußische Familie
Leser helfen Leser
Ruth Geede

Lewe Landslied und Freunde
unserer Ostpreußischen Familie,

das ostpreußische Landschaftsbild ist unverwechselbar durch die beiden schmalen Landzungen zwischen der Ostsee und den Haffen geprägt, die Frische und die Kurische Nehrung. Aber während die Kurische Nehrung wegen ihrer einmaligen Schönheit viel besungen wird, gibt es von der Frischen Nehrung nur ein Lied, das jetzt durch unsere "Ostpreußische Familie" wiederentdeckt wurde. Viele Leserinnen und Leser wollen es haben - zugleich wurde aber auch das Interesse an dem bekannten Nehrungslied "Wo det Haffes Welle ..." geweckt, ja, es kam sogar zu Verwechslungen. Wir wollen heute die Geschichte beider Lieder bringen, denn sie sind es wert, erzählt und weitergetragen zu werden.

Was wir allgemein als "Nehrungslied" bezeichnen, heißt eigentlich "Hafflied", und es entstand auch in dieser Fassung "an des Haffes anderem Strand", nämlich in der Elchniederung, im Fischerdorf Inse. Aber seine eigentliche Wiege stand - in Japan! Dorthin hatte es die im Jahre 1876 auf der pommerschen Insel Zingst geborene Schriftstellerin Martha Müller-Grählert verschlagen. Sie war ihrem Mann, einem Hippologen, nach Fernost gefolgt, als er dorthin berufen wurde. Das Heimweh ließ aber die an ihrer Ostseeküste hängende Frau nicht los. Sie schrieb es sich von der Seele mit ihrem Gedicht, das sie schlicht "Mine Heimat" betitelte. Es ist im pommerschen Platt gehalten: "Wo de Ostseewellen trek-

ken an den Strand, wo de gele Ginster bleuht in'n Dünensand ..."

So besagt es jedenfalls diese Geschichte, die sich gut erzählen läßt. Aber es gibt auch zumindest eine andere Version. Danach soll es Martha Müller-Grählert 1902 in Prerow auf dem Darß verfaßt haben. Es fand in der Vertonung des Komponisten Simon Kranig als "Pommernlied" bald Verbreitung, aber anders, als es sich die Texterin vorgestellt hatte. Leopold Tolstoi dichtete es 1904 in den "Nordbaltischen Inselliedern" um in "Wan de Wälle trecke on den Klippenstrand ..." Vier Jahre später entdeckte es der Präzentor Franz Leiber in Inse und machte es - eng an den Urtext gelehnt - zum "Hafflied". Zuerst sangen es seine Schulkinder, dann der Inser Männerchor und schließlich ganz Ostpreußen. Dann nämlich, als die Anfangstakte zum Pausenzeichen des Reichssenders Königsberg wurden. Da hieß es dann auch bald "Nehrungslied", in dem "de Haff on Ostsee" an den Strand trecken.

Als solches lieben wir es, wenn es auch längst weiter gezogen und an der Nordseeküste gestrandet ist, wo es als "Friesenlied" gesungen wird. In dieser Version von Fischer-Friesenhausen ist es noch heute zu hören, leider sogar in hochdeutscher Fassung, womit es seine Ursprünglichkeit gänzlich verloren hat.

Über dieses Nehrungslied haben wir schon oft geschrieben, aber nicht über das Lied von der Frischen Nehrung, denn das hat eine ganz andere Geschichte. Es entstand auf diesem schmalen Streifen Land, es wurde dort geschrieben und vertont und blieb eigentlich auch in seiner angestammten Heimat. Bis es jetzt - fast möchte ich sagen - erst so richtig entdeckt wurde, denn es war auch in Ostpreußen kaum bekannt. Und das verdanken wir unserm Landsmann Heinz Schlagenhauf, der es uns zusandte. Er hatte es von einer Ostpreußin erhalten, die auf der Frischen Nehrung gewohnt hatte, übrigens - wie ich dem Schreiben unseres Landsmannes entnehmen konnte - einer Verwandten von Johanna Ambrosius, der Dichterin des ersten Ostpreußenliedes "Sie sagen all, du bist nicht schön ..."

Als Verfasser des Liedes "Unsere Nehrung" ist Pfarrer Ernst Froese, als Komponistin Else Froese angegeben. Wir wollten mehr über dieses Lied und seine Urheber wissen und fragten in unserer "Ostpreußischen Familie" danach. Es kamen sehr viele Zuschriften, so daß wir heute ein kleines Kapitel Nehrungsgeschichte aufschlagen können, das bis jetzt noch kaum behandelt wurde. Es ist aber auch zugleich das Lebensbild zweier Menschen, die ihr Wirken und Leben ganz in den Dienst der Nächstenliebe stellten, getreu ihrem Glauben und ihrer selbstgewählten Aufgabe. Das bezeugen die lebendig gebliebenen Erinnerungen ehemaliger Gemeindemitglieder, aus denen Ehrfurcht und Dankbarkeit sprechen.

Als soeben in ihrer Geburtsstadt Elbing getrautes Ehepaar kamen der Pfarrer Ernst Froese und seine Frau Else, geborene Bergmann, in das kleine Dorf Pröbbernau auf der Frischen Nehrung, sie blieben also in ihrer engeren Heimat. Das war im Jahre 1926, die durch den Versailler Vertrag gezogene Grenze lief westlich des kleinen Kirchdorfes, in dem Ernst Froese ein Jahr lang Hilfsprediger gewesen war und nun die Pfarrstelle, die auch die benachbarte Filialkirche Neukrug einschloß, übernahm. Es wurden fünf unvergessene Jahre, vor allem für die junge Pfarrersfrau, die diese Zeit bereits schon früh in ihren Erinnerungen festhielt. Und da diese erhalten blieben, kann man noch heute nachvollziehen, wie damals ihr Leben auf der Nehrung begann:

"Unser Boot rauschte durch die Wellen des Haffs, als eben der Morgen aufging. Sie sangen dem Tag ihr Ewigkeitslied entgegen. Segelboote schaukelten hier und dort in wunderbar leuchtenden Farben, schon war man bei der Arbeit. Die Sonne schlief noch, es war 2.30 Uhr. Kleine leichte Sommerwölkchen schwammen im klaren Äther, und die Haffwellchen hoben und senkten sich friedlich, wie spielend, im Morgenwind. O diese Freiheit! Die Nehrung grüßte wie ein dunkler Rand herüber, und hinter uns blaute die Haffküste, verträumt und, ach, so herzvertraut. Näher kamen wir der neuen Heimat. Schon winkte das weiße Kirchlein, das Gasthaus lag verschlafen daneben, das ganze Dorf schlief fest und tief. Ein schrilles Signal - und da löste sich aus den Binsen ein kleines Boot und kam uns entgegen: der Ferdinand vom Schmirgel schlief nicht mehr. Er bootete uns aus und brachte uns an Land, ins neue Heim, ins dämmrige Haus, wo alle guten Geister uns für die nächsten fünf Jahre einen Frieden aufbauten, wie ihn die Welt nie und nirgends mehr bieten konnte."

Else Froese ging ganz in ihren Aufgaben als Pfarrersfrau auf, nahm sich vor allem der Frauen an, die ein hartes Leben hatten: "Schwer liegt die Last des kargen Landes auf ihren Schultern." Sie arbeitete mit ihnen in der Frauenhilfe, sang und werkte mit den Frauen und Mädchen, schrieb zusammen mit ihrem Mann Theaterstücke und übte sie mit ihren Gemeindemitgliedern ein, die begei-

stert mitmachten. Else Froese hielt auch diese Tätigkeiten des jungen Paares in ihren Erinnerungen fest: "Unsere Theaterstücke waren fast lauter Uraufführungen, auch das Nehrungslied entstand als Vorspruch zu einem dieser Festabende." Pfarrer Froese schrieb den Text, sie komponierte. Das Lied wurde nicht nur auf Versammlungen gesungen, Frauen und Mädchen sangen es an lauen Sommerabenden, die Feriengäste hör-

ten zu, und ein begeisterter Gast sandte es an den Rundfunk. Else Froese: "Plötzlich bekamen wir zehn Mark vom Postboten ausgehändigt und erfuhren dadurch, daß das Lied vom Reichssender Königsberg gesendet worden war! In Pröbbernau gab es ja weder Radio noch elektrisches Licht - uns leuchtete die Petroleumlampe und die Musik lieferte unser Flügel. Dann erschien das Nehrungslied in einigen Liederheften und sogar in einem Klavieralbum. Am meisten aber freuten wir uns, als wir es eines Tages in der Kahlberger Schulchronik fanden!"

Der Abschied von der Nehrung fiel den Froeses nicht leicht. "Wir fuhren durch den Wald, die drei Kinder und ich, der Wagen brach fast von der Blumenfülle, mit der die Pröbbernauer uns verabschiedet hatten. Es dunkelte stark, und wir sangen uns die Traurigkeit vom Herzen. Aber die Wolken, die am Himmel standen, als der Dampfer uns durch die rauschenden Wellen fort von dem schmalen, dunklen, abendrotumglühten Nehrungsland führten, diese Wolken ballten sich und riefen in mein banges Herz hinein: ,Wo deine Seele wurzelt, da ist deine Heimat!'"

Else Froese hat ihre Heimat immer im Herzen bewahrt. Das zeigte sich auch nach Krieg und Flucht, als es das Ehepaar nach Braunschweig verschlagen hatte. Pfarrer Froese verschickte bereits am 1. April 1945 einen ersten Rundbrief an die Mitglieder seiner letzten ostpreußischen Gemeinde Paterswalde. Hier im Kreis Wehlau amtierte er von 1935 bis 1945, nachdem er die Jahre zuvor Leiter der Ostpreußischen Heilstätte für Alkoholkranke im Kreis Tapiau gewesen war. Die Paterswalder haben das Ehepaar Froese nicht vergessen, das beweisen viele Zuschriften von ehemaligen Gemeindemitgliedern, darunter auch Konfirmanden von Pfarrer Froese. Von Paterswalde aus ging Else mit ihrer jüngsten Ziehtochter auf die Flucht. Ihre Liebe zur Heimat, zur Frischen Nehrung und zu den alten Pröbbernauern zeigte sich besonders in der engen Verbindung zu der Familie Modersitzki. Zu ihr gehörte jener Ferdinand vom "Schmirgel" - wie das stattliche Fischerhaus genannt wurde -, der damals das junge Ehepaar empfangen hatte. Sein fröhlicher Vater starb 1931 den Fischertod, für die junge Pfarrfrau damals das erschütterndste Ereignis in ihren Nehrungsjahren. Ferdinand war schon früh nach Amerika gegangen. Frau Froese traf ihn nach dem Krieg wieder in Lensahn in Holstein, wo die Familie Modersitzki eine Heimstatt gefunden hatte, an einem anderen Strand ihrer geliebten Ostsee. Ferdinand war zu Besuch gekommen, und Mutter, Geschwister, ehemalige Nachbarn und Frau Froese feierten ein fröhliches Wiedersehn.

Seine letzte und längste Wirkungsstätte fand Pfarrer Froese in Braunschweig-Riddagshausen, wo er von 1946 bis 1969 das Pfarramt innehatte. Eine wunderbar erhaltene Zisterzienser-Kirche mit Klostergut, die 1975 ihr 700jähriges Bestehen feiern konnte. Da lebte aber das Pastorenehepaar schon im Altenheim Bethanien in Braunschweig. Ein langer und friedlicher Lebensabend, in den die Diamantene Hochzeit eingebettet war, zu der auch die ehemaligen Paterswalder herzliche Grüße sandten und Dank sagten für die briefliche Seelsorge noch lange Jahre nach Kriegsende. Else Froese verstarb 1988, ihr Mann folgte ihr 1992 fast 94jährig. Beide fanden auf dem Friedhof in Riddagshausen ihre letzte Ruhestätte.

Das ist die Geschichte von dem Lied von der Frischen Nehrung und seinen Schöpfern. Zusammengetragen von vielen Leserinnen und Lesern, die mir die unterschiedlichsten Informationen zusandten, so daß ich dieses Lebens- und Wirkungsbild wie ein Puzzle nahtlos zusammensetzen konnte. Ich kann nur einige Namen nennen wie den von Margarete Marenke aus Bonndorf, die 1946 in Riddagshausen von Pastor Froese getraut wurde und mir die schön bebilderte Chronik von dem Kloster Riddagshausen sowie viel Persönliches über das Ehepaar Froese zusandte, und Inge Bielitze, die mich über die Paterswalder Zeit informierte. Na, und dann "Idchen", die als jüngstes Kind der Familie Modersitzki einst auf dem Schoß von Else Froese saß und die nun, 84jährig, über Herrn Schlagenhauf einen großen Teil zu diesem Kapitel Heimatgeschichte beigetragen hat. Mein Dank gilt aber allen, die mir geschrieben haben. Auch denen, die das wiedergefundene Nehrungslied haben wollen. Hier sind die drei Strophen:

Gott schuf ein schmales Stückchen Land / Wohl zwischen Haff und See; / Armselig ist's und unbekannt, / Trägt wenig Korn und Klee.

Der Sturmwind ist dort auch zu Haus, / Und bringt den Fischern Not, / Trotz Wind und Wetter geht's hinaus, / Das ist ein hartes Brot.

Doch ist das Land auch noch so arm / Und schafft uns Not und Weh: / Wir sind ihm treu in Freud und Harm / Hier zwischen Haff und See.

Eure

Ruth Geede