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04.10.03 / Deutsche Wege zur Rückkehr in die Weltpolitik

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


Zur Diskussion: Östliche Visionen´
Deutsche Wege zur Rückkehr in die Weltpolitik 
von Martin Schmidt

Mit der klaren Zustimmung Lettlands zum EU-Beitritt ging am vorletzten Samstag der Referendumsreigen in den ostmitteleuropäischen Kandidatenländern zu Ende. Nur die Slowakei wäre beinahe aus der Reihe getanzt mit ihrer niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 2,15 Prozent über der geforderten Mindestquote von 50 Prozent.

Ansonsten verlief alles so, wie es sich die Mächtigen in Brüssel, Warschau, Prag, Budapest oder Riga erhofft hatten und wie es aus Mangel an Alternativen auch nicht anders zu erwarten war.

Die EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 ist zweifelsohne ein Einschnitt für die europäische Geschichte und berührt nicht zuletzt das Selbstverständnis des nach zwei Weltkriegen übriggebliebenen restdeutschen Staates.

Offiziell verfolgt dieser noch immer einen Kurs, den man als totale geistig-politische Westbindung beschreiben kann. Das Erbe der alten Bundesrepublik schlägt trotz Wiedervereinigung voll durch.

Andererseits gibt es Signale, die darauf hindeuten, daß unser Land wieder in seine einstige Rolle als europäische Mittelmacht hineinwächst bzw. durch die Kraft des

Faktischen in diese gedrängt wird. Dies geschieht jenseits der breiten Öffentlichkeit und wohl auch außerhalb des Bewußtseins weiter Teile der bundesdeutschen Führungsschichten.

Die laufenden ostpolitischen Debatten - sei es über das "Zentrum gegen Vertreibungen", die Benesch-Dekrete oder über die Zukunft des Königsberger Gebietes - müssen zwar geführt werden, dennoch täuschen sie gerade viele national-konservative Zeitgenossen über das Ausmaß der Veränderungen hinweg.

Denn wer als politisch interessierter Mensch nur diese schlagzeilenträchtigen Diskussionen verfolgt, bekommt leicht den Eindruck, es habe sich seit dem Wendejahr 1989 wenig verändert.

Die hiesigen Massenmedien bezeugen gebetsmühlenartig die Verinnerlichung der jahrzehntelangen antinationalen Vergangenheitsbewältigung. Und in der polnischen wie in der tschechischen Öffentlichkeit offenbaren sich altbekannte deutschfeindliche Klischees.

Auch neuartige Diskussionen wie die über das Für und Wider einer Achse Paris-Moskau-Berlin oder über den (Un-)Sinn von Bundeswehr-Einsätzen in Afghanistan oder im Irak liefern keine überzeugenden Visionen für eine erfolgreichere Außenpolitik, sondern sorgen eher für Verwirrung.

Sie erschweren die Einsicht, daß das heutige Deutschland politisch, militärisch und zunehmend auch wirtschaftlich einfach zu schwach ist, um international Gehör zu finden. Tatsächlich bleibt vorerst nur das Nachdenken darüber, wie man aus dieser fatalen Schwäche herauskommt.

An erster Stelle steht dabei die Erkenntnis, daß mit einer überalterten Bevölkerung intern wie extern "kein Staat zu machen ist". Hinzu kommen Überlegungen zu wirtschafts- und steuerpolitischen Reformen sowie einer besseren Ausbildung der nachwachsenden Generationen, denen nicht zuletzt Werte und Ideale vermittelt werden müssen.

Auf dem Feld der Außenpolitik sieht der Verfasser die Notwendigkeit einer gezielten Selbstbeschränkung: Alle mobilisierbaren Kräfte sollten nach Osten gelenkt werden, um die wirtschaftlich-kulturelle Wiedererschließung dieser Räume voranzutreiben. Die Osterweiterung der Europäischen Union dürfte für diese Aufgabe von einigem Vorteil sein.

Immerhin ist die Ausgangslage keineswegs ungünstig: Die Zuwächse bei den deutschen Ostexporten liegen nach wie vor im zweistelligen Bereich. Mittlerweile investieren in den östlichen und südöstlichen Teilen Europas mehr kleine und mittelständische Betriebe als im Westen.

Vielleicht noch wichtiger als diese ökonomischen Veränderungen ist der Bewußtseinswandel in den Köpfen. Im polnischen Machtbereich wächst eine junge Generation heran, die mehr denn je an der Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit Ost- und Westpreußens, Pommerns und Schlesiens interessiert ist.

Auch einige jüngere Deutsche setzen Signale für einen Neuanfang. Etwa der Rechtsanwalt und Slawist Alexander Ilgmann, dessen Vorfahren aus Niederschlesien stammen und der in diesem Jahr mit Frau und Kind nach Breslau umgezogen ist, um dort eine eigene Kanzlei zu gründen. Ermöglicht

wurde das durch ein Gesetz über die Niederlassungfreiheit für ausländische Anwälte, das der Sejm erst im Februar verabschiedete.

In Estland und Lettland sind es vor allem traditionsreiche deutschbaltische Adelsgeschlechter wie die Wrangells, die aus Solidarität mit der alten Heimat eine kontinuierliche grenzüberschreitende Aufbauarbeit leisten.

Die meisten Veränderungen vollziehen sich schleichend. In Niederschlesien sollen bereits Hunderte von Mittelständlern und Bauern aus dem Bundesgebiet tätig sein. Im grenznahen böhmischen Egerland haben sich Dutzende kleinere Unternehmen aus der Oberpfalz niedergelassen - der geringeren Löhne wegen, aber oft auch eingedenk der sudetendeutschen Herkunft der Vorfahren.

Daß es Einrichtungen wie das seit April arbeitende "Adalbert-Stifter-Zentrum" in Oberplan im Böhmerwald oder das einen Monat zuvor eröffnete "Sudetendeutsche Kontaktbüro" in Prag gibt, wurde zwar von tschechischen Politikern kritisiert, jedoch bleibt festzuhalten, daß hier beharrlich für eine schrittweise Normalisierung der Beziehungen zu Deutschland und den Deutschen gewirkt wird.

Schon sehr viel weiter ist man in dieser Beziehung in Estland, Kroatien, Ungarn und Rumänien, wo nach 1989 mehr oder weniger befriedigende Entschädigungs- bzw. Rückgabegesetze für enteignete Deutsche verabschiedet wurden.

Das ohnehin gute Verhältnis zu Ungarn wird vor Ort durch eine deutsche Volksgruppe gefestigt, die bei den Wahlen zu den Minderheiten-Selbstverwaltungen immer besser abschneiden konnte.

Kamen ihre Vertreter 1994 noch auf 163 Mandate und 1998 dann auf 270, so errangen sie im Herbst letzten Jahres sogar 315. Deutlich über eine Million Menschen unterstützten damals ungarndeutsche Bewerber, obwohl sich beim letzten Zensus im Februar 2001 nur 62 000 Personen zu dieser Minderheit bekannt hatten.

Im südungarischen Großnaraad wohnen inzwischen unter 880 Einwohnern vier Rentnerpaare aus Deutschland. Die Lebenshaltungskosten sind dort deutlich geringer, und zumindest je ein Partner hat ungarndeutsche Wurzeln. Außerdem besitzen 16 in der Bundesrepublik ansässige Familien Ferienhäuser in Großnaraad.

Für das nationale Bewußtsein der über 500 Ungarndeutschen vor Ort hat dies eine nicht zu unterschätzende stabilisierende Funktion und hilft bei der Verbesserung der gerade bei den Jüngeren weitgehend geschwundenen deutschen Sprachkenntnisse.

Ähnliche Beispiele ließen sich viele finden, doch nur wenige werden bekannt. Selbst bedeutsame Ereignisse auf der offiziellen Ebene finden hierzulande kaum Beachtung. Stellvertretend sei auf die Tatsache hingewiesen, daß im Herbst 2002 in Budapest mit der Andrássy-Universität seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erstmals wieder eine deutschsprachige Hochschule außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraumes ihren Lehrbetrieb aufgenommen hat.

Als besonders guter Boden für die bundesdeutsche Exportwirtschaft gilt Rumänien. Dies nicht zuletzt deshalb, weil dort die deutsche Kultur - vermittelt über das Erbe der Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben usw. - große Ausstrahlungskraft besitzt.

Die Zahl der deutschen Schulen, in denen heute vor allem rumänische Kinder eine anerkannt gute Ausbildung mit Deutsch als Unterrichtssprache erhalten, ist gegenüber der Zeit vor dem Massenexodus der Jahre 1990/91 erstaunlicherweise sogar gestiegen. Gerade viele Eltern aus der rumänischen Elite schicken ihre Sprößlinge auf diese Bildungsanstalten.

Selbst in Serbien hat ein Bewußtseinswandel eingesetzt. Das Parlament der autonomen nordserbischen Provinz Wojwodina verabschiedete im Februar eine Resolution, in der es die den Benesch-Dekreten vergleichbaren jugoslawischen AVNOJ-Beschlüsse von 1944 scharf verurteilt und dazu aufruft, deren rechtliches Fortbestehen zu beenden.

Andere europäische Mächte wie Frankreich oder Großbritannien können nur neiderfüllt auf die hervorragenden deutschen Ostkontakte blicken, die in nicht geringem Maße durch das Beziehungsgeflecht der Vertriebenen und Aussiedler begründet sind.

Gerade letztere haben der Bundesrepublik Deutschland ein reiches Fremdsprachenreservoir erschlossen: So verfügen wir über zahlreiche gute Polnisch-, Ungarisch-, Rumänisch- oder Russischsprecher, die als "Türöffner" zu den entsprechenden Kulturen und Märkten dienen können.

Darüber hinaus gibt es überall in den Heimatgebieten noch immer kleinere deutsche Minderheiten, die als Brücken zwischen Deutschland und seinen Nachbarn im Osten und Südosten fungieren.

Alle genannten Beobachtungen sind nur Ausschnitte aus einem unübersichtlichen Mosaik des Umbruchs. Sie zeigen aber sehr deutlich, daß der heutige deutsche Staat mittelfristig und besonders langfristig durchaus die Chance hat, aus einer gestärkten europäischen Mittellage heraus auch weltpolitisch Gehör zu finden. Nur braucht es dazu Geduld und einen sicheren Blick für die Prioritäten.

Symbolische Bilder: Der deutsche Einfluß im Osten (etwa in Ödenburg in Ungarn) wird immer größer, obwohl das aufflammende Nationalgefühl der Wende von 1989/90 nur Episode blieb

Fotos: Archiv/ Hailer-Schmidt Neidische Blicke auf deutsche Ostkontakte