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04.10.03 / Die deutschstämmigen Siedler fielen als erste den Stalinschen Säuberungen zum Opfer 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


Ins eisige Sibirien deportiert
Deutsche aus Rußland, Teil IV: Die deutschstämmigen Siedler fielen als erste den Stalinschen Säuberungen zum Opfer 
von Uwe Greve

"Liquidierung der Kulaken"

Stalin hatte, als Ende 1927 die vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft von ihm angeordnet wurde, zwei Ziele im Auge. Einmal glaubte er, mit landwirtschaftlicher Großflächenwirtschaft mehr Erträge zu erzielen, um die Überschüsse ins Ausland verkaufen zu können. Mit den so erwirtschafteten Devisen sollte die Schwerindustrie schneller aufgebaut werden. Zum anderen - und wahrscheinlich sogar vordringlicher - wollte er die Kulaken (Großbauern) beseitigen, die sich gegen viele bolschewistische Bestrebungen sperrten und nach Stalins Vorstellungen ein gefährlicher Fremdkörper im kommunistischen Staats- wesen waren.

Mit Beginn der Zwangskollektivierung wurden insbesondere den Großbauern unerfüllbare Abgabeverpflichtungen auferlegt. Um zusätzliches Getreide zur Ablieferung heranzuschaffen, mußten viele von ihnen Ackergeräte und Vieh verkaufen. Wer die staatlichen Forderungen nicht erfüllen konnte, wurde deportiert. Da unter den Deutschen, besonders auch den Mennoniten, viele Großbauern waren, waren die deutschen Siedlungsgebiete besonders betroffen. Etwa 700.000 Bauern wurden von der Staatsführung in Moskau als Kulaken eingestuft. 15 Prozent von ihnen waren Deutsche, obwohl ihr gesamter Anteil an der Landbevölkerung Sowjetrußlands nur bei einem Prozent lag.

Hinzu kam, daß die Sowjetregierung sehr wohl mißtrauisch registriert hatte, daß die Deutschen besonders schwach am bolschewi- stischen Parteileben teilnahmen. Von allen nationalen Minderheiten im Sowjetstaat waren unter den Deutschen die geringsten Kandidaten- und Parteimitgliedszahlen registriert worden.

Am Anfang der Zwangskollektivierung reisten in kurzer Zeit etwa 14.000 deutsche "Kulaken" nach Moskau und versuchten, über die deutsche Botschaft Auswandererpässe zu ergattern - insbesondere nach Kanada. 5.750 erlangten die begehrten Dokumente. Die Mehrheit wurde, nach Aussagen der deutschen Botschaft, "auf brutalste Weise zurücktransportiert und viele von ihnen als angebliche Anstifter der Auswandererbewegung zu jahrelangem Gefängnis verurteilt". Die Zwangskollektivierungswelle erfaßte jedoch nicht nur die Kulaken, sondern schrittweise auch alle anderen bäuerlichen Wirtschaften. Infolge ihres hohen Wohlstandes sahen die Bolschewisten in den deutschen Siedlern - auch jenen mit kleinen Höfen - durchgehend Kulaken. Von Monat zu Monat verschärfte sich der Kollektivierungsdruck. In der Rede Stalins vom 15. Dezember tauchten zum ersten Mal die Worte von der "Liquidierung der Kulaken" auf.

"Wer revoltiert, wird umgesiedelt"

Anfang 1931 erfolgten die ersten Massendeportationen, unter ihnen auch etwa 50.000 Deutsche. Weitere Deportationswellen folgten. Manchmal waren nur die Männer betroffen, in anderen Fällen ganze Familien. Blieb die Restfamilie am Ort, war sie vielfältigen Schikanen ausgesetzt. Am 1. Juni 1931 war die Wolgarepublik zu 95 Prozent "kollektiviert". Verzweifelte Aufstände in Dörfern wurden mit Waffengewalt niedergemacht. Die Deportationen und Zwangsmaßnahmen verringerten den Getreideanbau, ließen die Viehbestände sinken, ebenso wie die Arbeitsmoral. Eine Hungersnot ging durch ganz Sowjetrußland, die nach der Einschätzung westlicher Historiker zwischen drei und fünf Millionen Tote verursachte. Da die sowjetische Staatsführung alles tat, um die Not zu vertuschen, kam ausländische Hilfstätigkeit - auch aus Deutschland - nur sehr begrenzt zum Zuge. Wie viele Deutsche unter den Hungertoten waren, läßt sich kaum ermitteln.

Deutsche unter Spionageverdacht

Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933 in Deutschland verschlechterte sich nicht nur das außenpolitische Verhältnis zu Sowjetrußland, sondern sie brachte die Deutschen dort unter den generellen Verdacht, mit dem Nationalsozialismus zu sympathisieren. Am 5. November 1934 erließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion einen Ukas: "Über die Bekämpfung der konterrevolutionären faschistischen Elemente in den deutschen Kolonien." Den zuständigen regionalen Parteigliederungen wurde zur Pflicht gemacht, "unverzüglich Repressivmaßnahmen gegen aktive Konter- revolutionäre und antisowjetisch eingestellte Elemente zu ergreifen, Verhaftungen und Ausweisungen durchzuführen und böswillige Anführer zum Tode durch Erschießen zu verurteilen", wie eine 1995 in Rußland veröffentlichte Dokumentation belegt.

In Verdacht der Subversion gerieten jetzt selbst Deutsche, die Paketsendungen aus dem Mutterland empfingen. Viele Führungskräfte (sprich politische Funktionäre) in der deutschen Wolgarepublik wurden verhaftet und verschwanden für immer. Ins Visier der Geheimpolizei gerieten auch jene Deutschen und Österreicher, die am Ende des Ersten Weltkrieges hier geblieben und wirtschaftlich Fuß gefaßt hatten, aber den heimischen Paß noch besaßen. Etwa 55.000 Deutsche saßen vor Beginn des deutschen Rußlandfeldzuges im Sommer 1941 in Strafarbeitslagern. Viele von ihnen sind dort an Hunger und Seuchen gestorben. Welche Dimension die Verhaftungen und "Säuberungen" haben konnten, geht nur aus Ein- zelberichten hervor. So wurden aus dem Dorfe Maierhof im Gebiet von Dnjepropetrowsk, bestehend aus 42 Höfen, bis 1939 alle Familien deportiert.

Deportation aufgrund gefälschter Beweise

Nach Beginn des Rußlandfeldzugs am 22. Juni 1941, so schreibt der Historiker Karl-Heinz Ruffmann in seinem Essay "Die Rußlanddeutschen, Funktion und Gewicht im Zarenreich der Sowjetunion", "ist bekanntlich unter der Beschuldigung versuchter Kollaboration mit Spionen und Diversanten des faschistischen Todfeindes die deutsche Bevölkerung des europäischen Teils der Sowjetunion nach Mittelasien und Sibirien, in nördliche Regionen der RSFSR sowie in Industriegebiete des Ural deportiert worden". Ihr folgten nach Kriegsende rund 200.000 Rußlanddeutsche, die von den deutschen Armeen überrollt worden waren, sowie weitere 70.000 bis 80.000, die mit westalliierter Hilfe aus dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches in die UdSSR "repatriiert" wurden.

Sie alle hatten durch den Zweiten Weltkrieg (ab Sommer 1941) sämtliche Rechte einer Nation oder Volksgruppe eingebüßt: Rechtsstatus, Siedlungsgebiete, Bewegungsfreiheit, soziale Fürsorge des Staates, eigene Schulen und kulturelle Einrichtungen. Sie lebten als Verbannte in Arbeitslagern und Sondersiedlungen, mußten Schwerstarbeit in Bergwerken oder in völlig unerschlossenen Wäldern leisten.

Nur einige Details seien hier dargestellt: Im August 1941 wurde unter Führung des "Spezialkommandos für Deportation" unter General Serow die gesamte Wolgarepublik von regulären Truppen und Einheiten des Innenministeriums besetzt. Der männliche Bevölkerungsteil zwischen 15 und 55 Jahren wurde zusammengetrieben und nicht, wie versprochen, für den Fronteinsatz vorbereitet, sondern nach Osten deportiert.

"In der zweiten Monatshälfte", so Alfred Eisfeld in "Die Deutschen in Rußland und der Sowjetunion", "führten die Sicherheitsorgane mehrere Provokationen durch. Sowjetische Fallschirmspringer in deutschen Uniformen wurden in größerer Zahl über deutschen Dörfern abgesetzt und am nächsten Morgen von Suchtrupps aufgespürt. An anderer Stelle setzte man ebenfalls in deutsche Uniformen gekleidete Infanteristen in der Nähe von Saratow über die Wolga und ließ sie am Morgen des nächsten Tages von Abteilungen desselben Regiments gefangennehmen. Suchtrupps des NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, konnten mühelos Hakenkreuzfähnchen finden, die während der Vorbereitung des für 1940 geplanten Besuches Hitlers in der Wolgarepublik von den sowjetischen Behörden an die Bevölkerung verteilt worden waren. Diese Vorfälle dienten als Beweise für die Unterstützung von ‚Spionen und Diversanten' durch die deutsche Bevölkerung und führten zur sofortigen Verhaftung aller Führungskräfte der Wolgarepublik einschließlich der Regierungsmit- glieder. Mehrere tausend Wolga- deutsche wurden binnen weniger Stunden erschossen.

Am 30. August erschien im Organ des Gebietskomitees der Kommunistischen Partei und des Obersten Sowjets der Wolgarepublik ‚Nachrichten' der Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ‚Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen.' Darin hieß es: ‚Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden sich unter der in den Wolgarayons wohnenden deutschen Bevölkerung tausend und abertausende Diversanten und Spione, die nach den aus Deutschland gegebenen Signalen Anschläge in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons ver-üben sollen. Über das Vorhandensein einer solch großen Anzahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen hat keiner der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen, die Sowjetbehörden in Kenntnis gesetzt, folglich verheimlicht die deutsche Bevölkerung der Wolgarayons die Anwesenheit der Feinde des Sowjetvolkes und der Sowjetunion in ihrer Mitte. Um ein Blutvergießen im Falle von Diversionen zu vermeiden, hat das Präsidium des Obersten Sowjets es für notwendig gefunden, die gesamte deutsche in den Wolgarayons wohnende Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln.' Diese anderen Rayons waren Nowosibirsk und Omsk, die Region Altai, Kasachstan und andere benachbarte Gebiete."

In Viehwagons nach Sibirien

In Viehwaggons erreichten die Wolgadeutschen oft erst nach Wochen, ja nach Monaten Sibirien, Kasachstan und die anderen Verbannungsgebiete. Tausende gingen schon während der Transporte zugrunde. Nur in den Gebieten westlich des Dnjepr entgingen die Deutschen der Deportation, weil die Wehrmacht schneller war, als die Deportationen durchgeführt werden konnten.

Nach zumeist erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Sowjetrußland bekannt gewordenen Zahlen wurden im September 1941 365.000 Deutsche aus dem Gebiet der ASSRdWD nach Osten deportiert, aus dem Bereich Saratow 46.706 und aus dem Bereich Stalingrad 26.245. Die deutsche Wolga- republik und die anderen deutschen Siedlungsgebiete zwischen Dnjepr und Ural waren ausgelöscht. Offiziell durch Gesetz wurde die Wolgarepublik jedoch erst am 25. Februar 1947 aufgehoben. Selbst Deutsche in Georgien und Aserbaidschan wurden weiter nach Osten deportiert. 1942 bis 1944 erlitten Deutsche aus und um Leningrad das gleiche Schicksal. Die, die nicht während des Transports zugrunde gingen, landeten im südlichen Kaukasus und Sibirien. Einige andere Völkerschaften in der Sowjetunion, wie die Krimtataren, Tschetschenen, Ingusen und Kalmücken mußten Ähnliches erleiden.

Der männliche Teil der Deportierten, für den Armeedienst als unzuverlässig geltend, wurde zur "Arbeitsarmee" eingezogen. Er mußte in Bergwerken, beim Aufbau von Rüstungsbetrieben, beim Bau von Straßen, Kanälen und Bahntrassen Schwerstarbeit leisten. Im Raum Tscheljabinsk nahe Karaganda, Workuta, Swerdlowsk und vielen anderen östlichen Städten und Ortschaften vegetierten sie in Arbeitslagern. Allein in den Arbeitslagern von Tscheljabinsk, wo mehr als 100.000 Rußlanddeutsche zusammengepfercht waren, überlebten um die 30.000 nicht. Über den Massengräbern steht heute ein schlichter Gedenkstein.

Die Arbeitszeit betrug zwischen zehn und zwölf Stunden am Tag bei kärglichster Ernährung. In Dutzenden von Büchern haben Überlebende dieser Lager ihre grausamen Erlebnisse festgehalten. Den nach dem Krieg von den Alliierten zwangsrückgeführten Rußlanddeutschen war das gleiche Schicksal beschert. Wer in der deutschen Armee als Hilfswilliger tätig gewesen war, lan-dete zwischen zehn und 25 Jahren in Arbeitslagern. Auch von den "Repatriierten" starben Zehntausende an Hunger, Entbehrungen oder Lagerseuchen.

Die Rußlanddeutschen in der Ukraine, die zwischen 1941 und 1944 unter deutsche Herrschaft gelangt waren, erreichten keine Rück-übertragung ihres Eigentums. Den deutschen Besatzungsbehörden ging es in erster Linie darum, möglichst viele landwirtschaftliche Güter hier erzeugen zu lassen, was Umstrukturierungen nur behindert hätten. Viele Rußlanddeutsche arbeiteten auch für deutsche militärische und zivile Dienststellen, andere gingen als sogenannte "Ost- arbeiter" in die deutsche Rüstungsindustrie.

Auch stellten deutsche Behörden vielen Rußlanddeutschen mit "Volkstumsausweis" die Einbürgerung anheim, so daß sie deutsche Staatsbürger wurden. Als die Front näher rückte, begann die Flucht der Rußlanddeutschen nach Westen. Zehntausende kamen über Bulgarien und Ungarn in Trecks nach Deutschland. Von den NS-Behörden im Warthegau angesiedelte Rußlanddeutsche, solche, die im Sudetenland gelandet waren, und auch alle anderen, die im Reichsgebiet lebten, wurden - soweit sie nicht untertauchten - an die Sowjets ausgeliefert und landeten in den Zwangsarbeiterlagern.

Massengrab aus der Stalin-Ära: Besonders während der 30er Jahre erspähte der Staats- und Parteichef überall Feinde des Regimes. Wer nicht gleich exekutiert wurde, wurde deportiert und erlag nicht selten den Strapazen der Zwangsarbeit. Foto: pa/akg