25.04.2024

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04.10.03 / Erbarmen, ein Automobil!

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


Erbarmen, ein Automobil!
von Horst-Dieter Radke

Sie war den weiten Weg gewöhnt; acht Kilometer vom Hof in Sternsee bis zur Schule in Bischofsburg. Jeden Tag zu Fuß hin und zu Fuß zurück. Oft mit den anderen Kindern zusammen, nicht selten aber allein - besonders auf dem Rückweg. Daß es ein langer Weg war, den sie jeden Tag zu gehen hatte, hätte sie von sich aus nie gesagt; sie kannte es ja nicht anders. Aber manchmal stöhnte sie doch, wenn es ihr nicht schnell genug ging. Sie sollte ja helfen, auf dem Hof. Sie wollte ja helfen! Und dann dauerte es noch so lange nach Schulschluß, bis sie, die letzten hundert Meter gerannt, ungeachtet des schweren Schulranzens, keuchend in die Küche stürzte und ihr "Ich bin da!" rief.

Vielleicht sah man ihr diese Ungeduld an. Vielleicht hatte heute der Lehrer besonders diese Ungeduld bemerkt. Er war der einzige aus Bredinken, der ein Automobil hatte. Um nach Bredinken zu kommen, mußte man nicht über Sternsee fahren. Aber man konnte auch einen kleinen Umweg machen, und das hatte der Lehrer an diesem Tag im Mai des Jahres 1934 wohl vor. Als er sein knatterndes Gefährt neben dem erschrockenen neunjährigen Mädchen anhielt, sich aus dem Fenster beugte, strahlte er über das ganze Gesicht, und es war ihm anzusehen, daß er einen Vorschlag in petto hatte, mit dem er seine Schülerin beeindrucken wollte.

"Na, Lisbethchen. Soll ich dich bis Sternsee mitnehmen?" Natürlich hatte Lisbeth schon Autos gesehen. Gelegentlich in Bischofsburg, aber immer aus Distanz. Und sie hatte sie immer als etwas Außergewöhnliches, sie selbst keinesfalls Betreffendes angesehen. Der Vorschlag des Lehrers - den sie übrigens schätzte und dem sie vertraute, zu dem sie sich in jede Kutsche gesetzt hätte - schockierte sie schlimmer, als wenn er etwa gesagt hätte: Mechtest du dich nich ausziehen, Lisbethchen?

"Erbarmen! Nei!" schrie sie und rannte davon, und der Lehrer sah ihr nach, überrascht und verwirrt, und registrierte die kleine Staubwolke, die sie an diesem heißen Tag hinter sich her zog. Er fuhr dann direkt nach Bredinken, ohne den kleinen Umweg über Sternsee.