04.12.2024

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04.10.03 / oder: Die Sache mit Hand und Fuß 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. Oktober 2003


"Der nächste, bitte!"
oder: Die Sache mit Hand und Fuß 
von Silke Osman

Wie die Hühner auf der Stange sitzen sie da. Kaum einer verzieht das Gesicht. Man könnte meinen, sie sind versteinert. Der eine oder andere ächzt, wechselt die Position auf dem Plastikstuhl, der auch schon einmal bessere Tage gesehen hat, wie übrigens auch die Menschen, die sich in dem kleinen Raum versammelt haben. Sie sehen sich nicht an, blicken durch das Gegenüber geradezu hindurch. Bloß einander nicht zu nahe kommen! Freiwillig sind sie alle nicht da. Schmerzen haben sie an diesen Ort getrieben. Meist plötzlich aufgetreten ist die Pein, sozusagen über Nacht. Andere wieder haben einfach zu lange gewartet. Es wird schon wieder, haben sie gedacht, und den längst fälligen Besuch beim Arzt immer wieder aufgeschoben. Es wurde nicht, im Gegenteil. Nun also haben auch sie endlich im Wartezimmer Platz genommen.

Plötzlich, ein Windzug; er bringt Unruhe in die Versammlung der Schmerzgeplagten. Stimmen sind zu hören, Türen klappen. Eine Tür öffnet sich. Nein, es ist nicht der Doktor, um den nächsten zu sich in sein Allerheiligstes zu bitten. Ein "Neuer" ist aufgetaucht. Noch einer, der die Reihe der War- tenden verlängern, der lustlos in den Illustrierten blättern wird, der gleichgültig durch die ande- ren Mitleidenden hindurchsehen wird. Einer, der schmerzverzerrt, die Augen gen Decke gerichtet, sehnsüchtig auf den helfenden Heiler wartet. Lange Minuten, die gefühlsmäßig zu Stunden werden im muffigen Einerlei eines Wartezimmers. Einer, der ... Doch halt! Nicht dieser! Der "Neue" sieht zwar ein wenig lädiert aus, gewiß. Er humpelt an einer Krücke herein. Ein Fuß ist in Gips. Und sein Daumen scheint auch etwas abbekommen zu haben, ihn ziert ein nicht mehr ganz blütenweißer Verband. Das Gesicht des "Neuen" jedoch ist von fröhlichen Lachfältchen durchzogen. Mit einem frischen "Guten Morgen" kommt er herein und setzt sich mit Schwung - anders geht's wohl auch gar nicht mit dem Gipsfuß - auf einen letzten freien Platz. "Da hab ich ja endlich mal Glück gehabt", sagt er und zeigt auf den Stuhl, "daß der noch frei ist. Ansonsten", und er hebt seinen Gipsfuß, klopft mit der gesunden Hand darauf, "reicht es mir. Unter dem Spruch, daß eine Sache Hand und Fuß haben muß, habe ich bisher etwas anderes verstanden." Er grinst, und die anderen Patienten lächeln ihn teilnahmsvoll an. Auf einmal ist der eigene Schmerz nicht mehr ganz so schlimm. Ganz behutsam kommt man sich näher, wechselt sogar das eine oder andre freundliche Wort miteinander.

Ursel Dörr: Wir haben das Korn geschnitten (Aquarell)