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18.10.03 / Ein Ende mit Schrecken

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. Oktober 2003


Ein Ende mit Schrecken
von Willi Schepst

Woitkus-Szardwethen. Wo liegt Woitkus-Szardwethen? Wer kann sich noch an diesen Ortsnamen erinnern? Langes, befangenes Schweigen. Endlich meldet sich ein betagtes Mütterchen zu Wort. Woitkus-Szardwethen! Ah ..., richtig, so oder ähnlich muß dieser Ort geheißen haben. Ein entfernter Verwandter unserer Familie hat in diesem Dorf im Kreis Heydekrug gewohnt, und wir Kinder sind in den Sommerferien gerne dort gewesen. Meine Eltern lebten damals noch in Insterburg, und die dort auf dem Lande verlebten Ferien gehören zu meinen schönsten Kindheitserlebnissen.

Schon Wochen und Monate vorher freuten wir uns darauf und konnten den Tag unserer Abreise kaum noch erwarten. Mein jüngerer Bruder Erwin und ich fuhren dann in Begleitung meiner Mutter mit der Bahn bis nach Tilsit, wo wir in den Zug nach Memel umstiegen. Auf dem Bahnhof in Kugeleit erwartete uns jedesmal freudestrahlend Onkel Hermann mit seinem Fuhrwerk - einem zweispännigen Reisewagen, gezogen von zwei feurigen Rappen. Nach einer lautstarken, stürmischen Begrüßung nahmen wir im bequemen Fond des Wagens Platz, wobei mein Bruder Erwin vorn auf dem Kutschbock sitzen durfte; und auf ging es. Vorbei an Äckern und Weiden, wo buntgescheckte Kühe und Kälber friedlich grasten, vorbei an wogenden Kornfeldern, blühenden Hecken und gepflegten Vorgärten kamen wir dann nach geraumer Zeit in Woitkus-Szardwethen an - dem Dorf unserer Träume, das zu dieser Tageszeit träge in der Mittagsglut dahindöste.

Ein idyllisches Dorf mit tüchtigen, ehrgeizigen Bauern, die durch harte Arbeit und Fleiß zu Wohlstand und Ansehen gekommen waren. So war Woitkus-Szardwethen - bis zum Sommer des Jahres 1944.

Die Frühjahrsbestellung war in vollem Gange, als neue Gerüchte von der Lage an der Ostfront die Gemüter der Dorfbewohner in Unruhe versetzten. In der Tagespresse war erneut von einer Frontbegradigung die Rede, was in Wirklichkeit nichts anderes war, als ein neuer Vormarsch der Russen.

Hermann Gudat, ein angesehener Bauer, saß in Gedanken versunken am Frühstückstisch und löffelte bedächtig seine über alles geschätzte Milchsuppe. Er war schon lange Jahre Witwer und führte in letzter Zeit zusammen mit seinen zwei Töchtern Erika und Frieda die Wirtschaft. Vor dem Kriege legten noch seine Söhne mit Hand an, aber jetzt standen sie an der Front, und die ganze Last lag nun auf seinen Schultern.

Es war nun mal seine Art, alles zu erwägen, zu ermessen, einzuschätzen. Der sechste Kriegswinter hatte neue Opfer und Entbehrungen abverlangt. Zu guter Letzt waren nur noch Frauen, Kinder und Greise im Dorf zurückgeblieben. Wie sollte es bloß weitergehen? An einen Sieg glaubte er schon lange nicht mehr. Seine Bedenken über den Ausgang des Krieges hat er schon von Anfang an gehabt, nun schienen sich seine Befürchtungen zu bestätigen.

Ein Ende mit Schrecken und schweren Folgen rückte mit jedem Tag immer näher, und das beunruhigte ihn auch an diesem Morgen. Was hatte doch neulich der Pfarrer von der Kanzel gepredigt: "Wer Wind sät, wird Sturm ernten!" Wie eng war doch der Sinn dieser Worte auf die Geschehnisse der Gegenwart bezogen. Gab es denn wirklich bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die von einer höheren Gewalt gelenkt wurden? Menschliches Versagen allein konnte es doch nicht sein.

Sein philosophischer Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als Meta Nelaimischkies, eine hagere, von Krankheit gezeichnete Frau aus der Nachbarschaft, mit der Tür ins Haus fiel. Man sah es gleich auf den ersten Blick, daß sie sich in großer Bedrängnis befand, was sie mit zitternder Stimme auch zum Ausdruck brachte. Meta hatte im Ersten Weltkrieg ihren Mann verloren; ihr Sohn Gustav stand an der Front seinen Mann, so daß sie zusammen mit ihrer Schwiegertochter Herta die Lasten der nicht kleinen Wirtschaft tragen mußte. Nun aber war eine ihrer Kühe erkrankt, und da wurde dringend Rat und Hilfe gebraucht. Hermann Gudat, der im Ersten Weltkrieg Unteroffizier bei der Kavallerie gewesen war, hatte dort so manche veterinärmedizinischen Kenntnisse erworben und war dadurch im weiten Umkreis als ein geschätzter "Tierarzt" bekannt, der immer hilfsbereit dort einsprang, wo Not am Mann war. So war es auch heute.

Ohne große Worte zu machen, schob Hermann seinen Teller beiseite, ergriff seine Schirmmütze und eilte zur Tür hinaus. In solchen Fällen durfte man keine Zeit verlieren. Querfeldein rannten nun beide zu dem am Waldesrand gelegenen Bauernhof der Nelaimischkies. Hermann Gudat immer weit voraus, während Meta Nelaimischkies keuchend und schwer Atem schöpfend sich aus letzter Kraft bemühte, ihm zu folgen ... - Wie so oft konnte Gudat auch in diesem Fall helfen.

Eines Tages war er gerade beim Anspannen seiner Pferde, als Ortsbauernführer Klimkeit auf den Hof trat. Sein besorgtes Gesicht verhieß nichts Erfreuliches; hatte man doch in letzter Zeit mehr und mehr das Lachen verlernt. Schweren Schrittes ging er auf Hermann zu; sein forsches Auftreten war inzwischen einer augenfälligen Resignation gewichen.

Mit Begeisterung und großem Elan hatte sich Heinrich Klimkeit im Frühjahr des Jahres 1939 der großen Sache angenommen, war erfolgreich gewesen, hatte das Vertrauen der Partei gewonnen und sich all die Jahre als standhafter Kämpfer und führertreuer Mann bewährt. Aber heute fiel es ihm schon schwer, Haltung zu bewahren; hieß es doch, den Leuten wieder Mut zu machen.

Mit kräftigem Handschlag begrüßte er den pflichtbewußten Bauern, erkundigte sich beiläufig über dieses und jenes und kam dann übergangslos auf die neuen Verfügungen der Kreisleitung zu sprechen. Angesichts der ernsten Lage habe jeder Bauer ein zusätzliches Soll an Getreide, Kartoffeln und Fleisch abzuliefern, was natürlich auch diesmal mit patriotischen Redensarten unterstrichen wurde. Es war nun mal seine Berufung und Pflicht, den Auftrag seiner Partei in Ehren zu erfüllen. Hermann hatte versucht einzuwenden, Scheune und Keller seien leer, die Ernte noch nicht eingebracht und auch im Stall habe man schon ganz gehörig aufgeräumt, aber Ortsbauernführer Klimkeit blieb unerbittlich. Es war ja Krieg und Rücksichtnahme nicht am Platze.

Nachdem Klimkeit den Hof verlassen hatte, lud Hermann sein Arbeitsgerät auf den Wagen und fuhr aufs Feld hinaus. Es war ein heiterer Sommertag, ein leichter Wind strich über die erntereifen Felder und das wogende Kornfeld. Bald erreichte das Gefährt die Schneise am Kawohler Wald. Hermann hielt den Wagen an, spannte die Pferde aus und ließ sie am Grabenrand grasen. Auf den Feldern nebenan war die Roggenernte schon in vollem Gang. Frauen und Kinder waren dabei, die Garben in Hocke aufzustellen. In der Ferne war das Rattern einer Mähmaschine zu hören.

Am Nachmittag dieses Tages wurde die Luft plötzlich von einem zunehmenden Dröhnen erfüllt, das alle aufhorchen ließ. In all den Kriegsjahren hatte man nur von feindlichen Fliegerangriffen auf westdeutsche Städte gehört und gelesen. Ostpreußen war bisher weitgehend verschont geblieben. Sollte nun eine neue Phase des Krieges angefangen haben?

In Dreier-Formationen überflogen die stahlgrauen Vögel mit dem roten Stern auf den Tragflächen das Dorf in Richtung Tilsit. Kampfstaffel auf Kampfstaffel zog ungehindert ihre Bahn. Keine Flak versperrte ihnen den Weg, keine Messerschmidt-Maschine stellte sich zum Kampf. In diesen schweren Tagen schienen die Russen unangefochten den Luftraum zu beherrschen, und das war eine harte Tatsache, die man schweren Herzens zur Kenntnis nehmen mußte und deren ganzes Ausmaß man bald zu spüren bekommen sollte.

Die gespannte Lage im August 1944 hatte es zwangsweise mit sich gebracht, daß in Erwartung eines Großangriffs der Russen auf Memel und Tilsit eine Evakuierung der Bevölkerung aus diesem Gebiet angeordnet wurde. Auch Woitkus-Szardwethen erreichte in diesen verhängnisvollen Tagen der Befehl zur Räumung der Ortschaft. Damit begann ein langer schmerzvoller Leidensweg der Dorfbewohner, die Haus und Hof auf immer verlassen mußten.

Heute trägt Woitkus-Szardwethen schon einen anderen Namen, und der ist nur noch wenigen geläufig.

Landschaft an der Memel: Weit dehnen sich die Felder Foto: Archiv