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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 25. Oktober 2003 |
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Oberschlesien: Frustrierte Kumpel / Im Kohlerevier gehen bald die Lichter aus von Martin Schmidt Oberschlesien ist eine Montanregion mit großer Vergangenheit. Im südöstlichen Teil mit seinen reichen Kohle- und Erzvorkommen blühte der Bergbau bereits im Mittelalter auf. In der preußischen Zeit ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das "Land unterm Kreuz" sogar zum zweitgrößten Industriegebiet Deutschlands nach dem Ruhrpott. Vor der von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs trotz anderslautender Volksabstimmung 1922 erzwungenen Abtretung des an Bodenschätzen besonders reichen Ostteils an Polen sah die Bilanz wie folgt aus: 20, 5 Prozent der gesamten Steinkohlevorräte des Deutsches Reiches lagen in Oberschlesien; es gab dort 67 Steinkohlenbergwerke, 15 Zink- und Bleigruben sowie 37 Hochöfen (nach 1922 waren es dann nur noch 14 Bergwerke, fünf Gruben und 15 Hochöfen). Noch nach 1945 förderte ganz Oberschlesien doppelt so viel Steinkohle wie das Ruhrgebiet. Die kaum kriegszerstörte oberschlesische Industrie blieb für Jahrzehnte der wichtigste Motor der sozialistischen polnischen Wirtschaft. Allerdings beschränkte diese sich auf die Ausbeutung der in deutscher Zeit aufgebauten Strukturen, ohne sich beispielsweise auf den wachsenden Bedeutungsverlust der Schwerindustrie einzustellen. Heute drohen im Revier zwischen Gleiwitz und Sosnowitz die Lichter auszugehen. Die im vergangenen Jahrzehnt begonnenen Massenentlassungen - allein 1998 mußten 35 000 Bergleute aufhören - sind unvermeidlich und können trotz einer politisch einflußreichen "Gruben-Lobby" allenfalls verzögert werden. Nun sollen ab 1. Januar 2004 weitere vier Gruben dichtmachen. Das kündigte Ende August das Wirtschafts- und Bergbauministerium in Warschau an und löste damit erhebliche Unruhe unter den Kumpeln aus. Diesmal droht 8700 Bergleuten der Verlust ihrer Arbeit. Die Betroffenen und Tausende von künftigen Entlassungen bedrohte Bergleute gingen auf die Straße. Unter der Leitung verschiedener Gewerkschaften demonstrierten sie in den diesmal betroffenen Revierstädten Beuthen, Ruda und Ober Lazisk. Die Wut steigerte sich so sehr, daß es zu einem blutigen "Sturm auf Warschau" kam. Auch von einem Generalstreik ist in letzter Zeit immer wieder die Rede. Tatsache bleibt jedoch, daß die Energiequelle Steinkohle national wie international einfach zu teuer geworden ist. Jede Tonne schlesischer Kohle kostet heute 32 Euro, während sie auf dem Weltmarkt nur 20 Euro einbringt. Die nackten Zahlen lesen sich wie folgt: Noch im Jahre 1989 wurden auf dem Gebiet der Republik Polen (das heißt fast ausschließlich in Oberschlesien) 177 Millionen Tonnen Kohle gefördert, wovon 145 Millionen Tonnen auf dem Binnenmarkt abgesetzt werden konnten. Im Bergbau waren damals insgesamt 415 000 Personen beschäftigt. Im Jahre 2003 wird sich die Gesamtfördermenge auf 100 Millionen Tonnen belaufen, von denen 70 Millionen im Inland verbraucht werden. Die Zahl der Beschäftigten in den Gruben liegt derzeit bei rund 130 000. Während das sozialistische Polen in den 1950er Jahren fast die gesamte benötigte Energie, nämlich 97 Prozent, aus Steinkohle gewann, sind es im laufenden Jahr nur noch 44 Prozent. Braunkohle, Erdgas und Öl werden als Energielieferanten immer wichtiger. Darüber hinaus hat sich Warschau im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen zu einer weiteren Verringerung seiner Kohleförderung verpflichtet. Vielleicht würde eine größere Zahl der Kumpels die Notwendigkeit des Stellenabbaus einsehen, wenn die wirtschaftliche Lage im oberschlesischen Kohlerevier nicht gar so trostlos wäre. Ein erfolgreicher Umbau der veralteten Strukturen, wie sie im Ruhrpott vorgemacht wurde, erscheint hier unvorstellbar. Die Revierstädte sind total überschuldet und wirken für mögliche Investoren alles andere als verlockend. Etwa 80 Prozent der Bergleute, die noch unter Tage arbeiten, verfügen allenfalls über einen Berufsschulabschluß. Die Chancen für gelungene Umschulungen gehen gegen Null. Zu den traditionsreichsten oberschlesischen Bergbaustädten gehört Beuthen. In diesem als Zentrum des 1922 beim Deutschen Reich verbliebenen Teils des Kohlereviers geltenden Ort hat es bereits im 13. Jahrhundert Blei- und Silberabbau gegeben. 1805 schuf Graf Lazarus III. Henckel von Donnersmarck im südwestlich der Stadt gelegenen Wyrek das erste größere private Eisenhüttenwerk mit Kokshochofen in Oberschlesien. Unter der Zwangsabtretung Ostoberschlesiens an Polen mußte Beuthen besonders leiden, da auch etwa ein Viertel seiner Fläche abgetrennt wurde, eine wichtige Grube auf kommunalem Gebiet verlorenging und die Stadt fortan für knapp zwei Jahrzehnte an drei Seiten von einer Grenze umschlossen war. Trotzdem trug Beuthen entscheidend dazu bei, daß die beim Reich verbliebenen Steinkohlegruben dank erheblicher Produktionssteigerungen schon Mitte der 20er Jahre mehr förderten als das gesamte oberschlesische Industriegebiet vor dem Ersten Weltkrieg zusammengenommen. Die Kohlenförderung im polnisch verwalteten Ostteil war im Vergleich dazu im Jahr 1925 auf 67 Prozent des Vorkriegsstandes gesunken. Heute scheint das Ende der Geschichte Beuthens als namhafter Wirtschaftsstandort nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die Arbeitslosenrate liegt schon jetzt bei 27 Prozent. Darüber hinaus sollen mit den zwei weiteren geplanten Grubenschließungen noch einmal 4000 Arbeitsplätze verlorengehen. Der örtliche Sejmabgeordnete Lechoslaw Jankiewicz geht außerdem von 16 000 bis 20 000 gefährdeten Stellen in Zuliefererbetrieben sowie im Dienstleistungsbereich aus. Hochproblematisch ist auch die Tatsache, daß fast jeder dritte Bürger im 230 000 Einwohner zählenden Beuthen Frühpensionär, Rentner oder Gelegenheitsarbeiter ist. Zu den wenigen Unternehmungen im oberschlesischen Industriegebiet, die derzeit noch Hochkonjunktur haben, gehören die Gewerkschaften. In den Bergwerken gibt es mittlerweile 30 verschiedene von ihnen. In jeder einzelnen Zeche sind es zwischen acht und 16. Die größten heißen "Solidarnosc", "ZZG", "Kadra" oder "Sierpin ". Sobald eine polnische Gewerkschaft mindestens 150 Mitglieder zählt, wird ein Aktivist durch den Arbeitgeber freigestellt. Sind es über tausend Mitglieder, muß der Betrieb vier Personen von ihrer normalen Arbeit für die gewerkschaftliche Tätigkeit entbinden. Dabei ist dann der alte Lohn weiterzubezahlen, einschließlich aller unter Tage fälligen Zulagen. Vor dem Hintergrund der übermächtigen Konkurrenz aus Asien, Amerika oder aus der Ukraine und Rußland können die oberschlesischen Bergwerke derartige Lasten eigentlich schon längst nicht mehr tragen. Schachtanlage in Beuthen-Miechowitz: In der traditions-reichen Bergbaustadt Beuthen liegt die Arbeits-losenrate heute schon bei 27 Prozent Foto: Arnulf Hein Strukturreformen wie im Ruhrgebiet erscheinen unvorstellbar |