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01.11.03 / Liebe oder doch Hiebe?

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. November 2003


Liebe oder doch Hiebe?
von Heinz Kurt Kays

Der Dorfschulmeister war überall in Masuren eine unverzichtbare und zumeist auch geschätzte Einrichtung. Hatte er doch den lieben Kinderchen das notwendige geistige Rüstzeug für ihr ganzes Leben zu vermitteln. Und das bestand nebst Lesen und Schreiben zuvörderst aus dem kleinen wie großen Einmaleins. Als ebenso wichtig galt ferner einige Kenntnis der biblischen Geschichte. Auch einige der oft vielstrophigen Kirchenlieder waren zu lernen, sowie die zehn Gebote aus dem Katechismus.

Ihr Amt hatten diese biederen Pädagogen in oft lediglich einklassigen Schulen auszuüben. Dort wurden Jungens und Mädchen von der ersten bis zur letzten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet. War deren Gesamtzahl zu groß, wurden sie in zwei Klassen aufgeteilt, was aber eher die Ausnahme war als die Regel. Und alle haben sie neben der obligatorischen Fibel und dem Rechenbuch als unersetzbares Arbeitsgerät die Schiefertafel samt Griffel und Schwamm benutzen müssen.

Eine derartige Schule gab es etwa auch in Wargallen, einem inmitten der schier unendlichen masurischen Wälder gelegenen Örtchen. Herr über die gutding etwa siebzig bis achtzig Marjellen und Lorbasse war seit Jahren der Schulmeister Michael Romeiß, ein ebenso tüchtiger wie erfahrener Erzieher. Als Unterstützung hatte er seit einiger Zeit für die untere Klasse den Hilfslehrer Paul Saborosch, der gerade seine Ausbildung am Seminar zu Hohenstein erfolgreich abgeschlossen hatte.

So waren die schulischen Dinge in Wargallen wohlgeordnet, und alle waren es zufrieden, sowohl die Kinder als auch ihre Eltern. Den überwiegenden Anteil daran hatte natürlich Michael Romeiß. Der nämlich war ein Pädagoge mit überraschend fortschrittlicher Einstellung. Als er etwa einmal aufgefordert wurde, mehr Strenge walten zu lassen und des öfteren mal zum Rohrstock zu greifen, um aufmüpfige Schüler zur Räson zu bringen, da meinte er nur: "Es lernen, wie seit langem erwiesen, die Zöglinge mehr durch Liebe als durch Hiebe!"

Natürlich sind Kinderchen aus aller Welt, nicht nur die aus dem Masurischen, selten so, daß man ihre Erziehung rein mit Güte und Milde praktizieren kann. Das mußte mitunter auch der Dorfschulmeister Romeiß erfahren. Da gab es zum Beispiel den zwölfjährigen Hermann Kollatz, Sohn eines angesehenen und nicht unvermögenden Bauern. Dieser Bengel vermochte es gelegentlich, sogar den überaus geduldigen Pädagogen auf die Palme zu bringen, obwohl in den Wäldern um Wargallen kein derart exotischer Baum zu wachsen pflegte.

Also, der Hermann Kollatz meldete sich in einer Rechenstunde mit erhobenem Zeigefinger zu Wort und gab das folgende zum besten: "Herr Lehrer, nu weiß ich rein nuscht mehr. Gestern haben Sie uns gesagt, vier mal sechs ist vierundzwanzig. Und heut' erzählen Sie, drei mal acht ist vierundzwanzig. Nu frag' ich mich, was ist denn richtig?" Dabei grinst der Lorbaß über das ganze mit Sommersprossen gesprenkelte Gesicht.

Wer kann es ihm bei dieser Sachlage verübeln, daß Michael Romeiß der Geduldsfaden riß? Er langte jedenfalls in sein Pult, wo jener Stock hing, den er sich aus einem Haselnußstrauch in seinem Garten geholt und auf gehörige Länge zurechtgeschnitten hatte. "Wirst schon spüren, Hermannche, was richtig ist", sagte er, "brauchst bloß vorkommen zu mir."

Was soll viel erzählt werden. Das Hermannche mußte sich über die vorderste Bank beugen, und auf seine Kehrseite hagelte es vier mal sechs Schläge. Der Delinquent hatte laut mitzuzählen und kam tatsächlich auf vierundzwanzig. Nach einer kurzen Verschnaufpause wurde die Prozedur fortgesetzt, nur daß es diesmal drei mal acht Hiebe waren. Und auch hier lautete die Summe genau vierundzwanzig.

Der Pädagoge ließ das elastische Stöckchen noch ein paarmal durch die Luft schwippen und fragte dann: "Nu, was ist? Weißt jetzt Bescheid? Oder sollen wir es noch mal versuchen, mit zwei mal zwölf vielleicht?" Hermann Kollatz rieb sich gedankenverloren das Hinterteil. Es brannte nur wenig, denn Lehrer Romeiß pflegte immer mit sozusagen halber Kraft ans Werk zu gehen. Dennoch winkte der Schüler ab: "Nei, nei", sagte er etwas gezwungen und griente kurz, "nu ist mir alles klar. Muß keine Nachhilfe mehr sein."

Dazumal wurden die Herren Lehrer auf dem flachen Land nicht eben üppig besoldet. Und auch in Wargallen war das Lied vom "armen Dorfschulmeisterlein" bekannt und wurde gern gesungen, wenn jemand Michael Romeiß oder Paul Saborosch, seinen Adlatus, einmal ärgern wollte. Was aber nicht bedeutete, daß die Dorfbewohner ihre Pädagogen etwa im Regen stehen oder gar Hunger leiden ließen. Ganz im Gegenteil, es galt als selbstverständlich, daß sie zu Hochzeiten, Kindstaufen und Konfirmationen eingeladen wurden und man ihnen vorsetzte, was Küche und Keller zu bieten hatten. So hatte Michael Romeiß sich im Lauf der Jahre an so mancher Festtafel delektiert und nach und nach einen überaus gesegneten Appetit herangebildet, um es vornehm zu formulieren. Böse Zungen waren da freilich viel drastischer, sie behaupteten: "Er ist ganz schön verfressen, unser Herr Schulmeister."

Was an derartigen Behauptungen wahr sein mochte, darüber kann sich jeder ein Urteil bilden, wenn er von dieser Episode erfahren hat. Sie ereignete sich um Martini herum, wenn bekanntlich die Zeit der Gänsebraten beginnt. Zu einem solchen Essen war wieder einmal unser biederer Päd-agoge geladen. Als aufgetragen wurde, schaute er wohlgefällig auf die Servierplatte und meinte dann sinnierend: "So eine Gans ist eigentlich ein komischer Vogel, für zwei ist zu viel an ihr dran und für drei zu wenig." Sprach's und langte sich eine besonders knusp-rig gebräunte Keule, schob jedoch seinem Tischnachbarn die Schüssel mit Kartoffeln und Rotkohl zu.

Doch zurück in das eigentliche Reich des Herrn Lehrers, in die Dorfschule von Wargallen also. Zum vorgeschriebenen Lernpensum für die masurischen Landkinder kam seinerzeit auch das Fach "Hygiene", also die Pflege des Körpers und der Gesundheit. Und der stets fortschrittliche Michael Romeiß widmete sich diesem Themenkreis mit besonderem Enthusiasmus. Nach einigen längeren Vorträgen wandte er sich an die aufhorchende Klasse und stellte diese Frage: "Warum also soll man sich von Zeit zu Zeit schneiden die Fußnägel?" Mehrere Hände gingen hoch, darunter die von Gertrud Marek, einer etwas schüchternen Marjell, aus einem Kätnerhaushalt stammend. Und gerade sie wurde aufgerufen, die Antwort zu geben. Mit reichlich piepsigem Stimmchen kam folgende praktische Erklärung: "Weil - Muttchen muß sonst zu oft die Löcher in den Socken stopfen. Und ...", so fügte Trudchen hinzu, "ich muß helfen, und dabei piekse ich mich immer wieder in meinen Daumen." An diesem Tag hat Schulmeister Romeiß kein Wort mehr über Hygiene und Körperpflege verlauten lassen.

Allgemach kam der Erzieher der Jugend von Wargallen in die Jahre. Und - wie das eben so ist - seine bis dato hochgerühmten geistigen Fähigkeiten gingen langsam immer mehr zurück. Das galt nicht nur für das Gedächtnis, auch im allgemeinen Wissen tat sich die eine oder andere Lücke auf. Was naturgemäß zu mancher kuriosen Fehlleistung führte, die man getrost in die Kategorie "Kathederblüten" einreihen konnte. Zur Ehre fast der gesamten Dorfbe- völkerung sei gesagt, dies wurde zwar belächelt, aber nur so, daß es dem bewährten Pädagogen nicht zur Kenntnis kam. Erwähnt werden soll hier nur eine charakteristische Episode aus dem Heimatkunde-Unterricht. Dabei sprach der Herr Lehrer unter anderem über die Entfernung zwischen Wargallen und der zuständigen Kreisstadt. Wobei er diese Erläuterung gab: "Es sind", so sagte er, "von hier bis nach Johannisburg exakt vierzehn Kilometerchen. Und - schau eins an - von dort bis nach Wargallen ist es genau so weit. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern auch höchst verwunderlich!" Nicht sehr viel später ist Michael Romeiß sozusagen in den wohlverdienten Ruhestand "getreten worden". Immerhin zählte er da bereits nahezu siebzig Jahre. Ein Weilchen hat der emeritierte Pädagoge danach noch ruhig vor sich hin gelebt. Als er schließlich das Zeitliche segnen mußte, da trauerten fast alle seine ehemaligen Schüler und Schülerinnen um ihn. Und im Gemeinderat des Dorfes wurde angeregt, einen ehrenden Nachruf in die "Johannisburger Zeitung" zu setzen.

Dabei kam es in diesem Gremium freilich zu einem Disput, zumeist der anfallenden Kosten wegen. Und Hermann Kollatz, aus dessen Schulzeit eingangs berichtet wurde, dieser Hermann Kollatz, nunmehr ein angesehener Bauer und Zweiter Bürgermeister von Wargallen, machte den wohl nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag, als Überschrift diesen Satz zu nehmen: "Ein wackeres Lehrerherz hat aufgehört zu schlagen." Es dauerte einige Zeit, bis alle Gemeinderäte dessen Doppeldeutigkeit erfaßt und begriffen hatten. Dann aber lehnten sie den Antrag einhellig und mit großer Entrüstung ab.

Herr über etwa siebzig bis achtzig Marjellen und Lorbasse

Sigi Helgard: Allenstein (Öl, 1985). Die Künstlerin zeigt noch bis zum 19. November unter dem Titel "Bilder der Welt" Traum- und Feenbilder, Stilleben, Städtebilder, Porträts prominenter Politiker und religiöse Bilder. TriBühne Norderstedt, Rathausallee 50 (Eingang Rathaus), in Norderstedt bei Hamburg (montags, mittwochs, donnerstags 11 bis 16 Uhr)