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15.11.03 / Der moderne Mensch hat das Warten verlernt

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. November 2003


Eine seltene Gabe
Der moderne Mensch hat das Warten verlernt

Was ist eigentlich Geduld? Bezeichnet das Wort die menschliche Haltung eines ausdauernden Ertragens oder eines auf Zeit und Schicksal bezogenen Wartenkönnens? Ich glaube, daß es beides umfaßt.

Geduld hat etwas mit Dulden zu tun. Geduld ist heute etwas sehr Seltenes. Wer will und kann denn heute noch dulden? Man verdrängt lieber Unangenehmes oder Schicksalhaftes, schüttelt es ab, lebt Schmerz und Trauer nicht aus und verhindert so ein seelisches Reifen. Die Menschen können nicht mehr warten; warten, bis das Erduldete zum überwundenen und verarbeiteten Reichtum der Seele geworden ist.

Warten können! In unserer hektischen Zeit hat der Mensch das geduldige Warten verlernt. Die Ungeduld, die leere, freudlose Betriebsamkeit ist oft zur Grundstimmung unseres Lebens geworden. Nervenaufreibend ist das Warten beim Arzt, das Warten auf Hilfe bei einer Autopanne, das Warten auf eine Nachricht, auf gutes Wetter, ja auf den Morgen bei Schlaflosigkeit.

Man muß sich nicht jeden Wunsch gleich erfüllen, sondern sollte warten können. Seelisches Fasten erhält Verlangen und Sehnsucht, und nichts ist so dumm wie ständiger Genuß.

Schon Kindern sollte man das Wartenkönnen beibringen. Manches Kind kann nicht warten, bis es das Papierhütchen von der Hya-zinthe auf dem Glas nehmen darf, und verdirbt so die Blüte. Oder es kann nicht auf seine Weihnachtsgeschenke warten und sucht vor Weihnachten in allen Schränken danach, bis es sie findet und seine Weihnachtsfreude vorwegnimmt. Und wie viele sehr junge Jugendliche nehmen die nächste Lebensstufe vorweg, indem sie intime Kontakte suchen, für die sie noch gar nicht reif sind. Auch Erwachsene können oft nicht in der Gegenwart und in ihrer Arbeit Befriedigung finden und denken: "Wenn ich nur schon Rentner wäre."

In der Gegenwart leben, das Heute voll ausleben, den Augenblick schöpfen fällt vielen Menschen schwer. Aber nur dadurch werden sie für die nächste Lebensstufe reif. Nur dadurch wird ihre Erlebnisfähigkeit geschult. Die Erlebnisfähigkeit des heutigen Menschen hält mit seinem Erlebnishunger nicht mehr Schritt.

Der römische Dichter Horaz sagt: "carpe diem" - "pflücke den Tag" - "lebe im Heute". Nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft sollen wir leben, sondern im Augenblick, um glücklich zu sein. Nur wem sich die Gegenwart schenkt, der ist ein glücklicher Mensch. Eva Hönick