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22.11.03 / Der Platz ganz vorn

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. November 2003


Der Platz ganz vorn
von Reinhild Guhl

Seit im Jahre 1816 der preußische König Friedrich Wilhelm III. anordnete, den letzten Sonntag des Kirchenjahres in Preußen als Gedenktag der Entschlafenen zu feiern, gibt es in den evangelischen Kirchen den Totensonntag. Möglicherweise war er als Gedenktag für die Gefallenen der Freiheitskriege vorgesehen, aber sehr bald wurde an diesem Tag der Verstorbenen überhaupt gedacht. So verbreitete er sich rasch in den evangelischen Landeskirchen als Gegenstück zum katholischen Feiertag "Allerseelen". Die schnelle Annahme dieses Tages zeigt deutlich, wie sehr er einem tiefen menschlichen Bedürfnis entgegenkam: Menschen brauchen eine feste Tradition, um sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen und trauern zu können. Und so werden seit bald 200 Jahren in ganz Deutschland vor dem Totensonntag auf den Friedhöfen Gräber hergerichtet, Lichter angezündet, Andachten gehalten. Am Sonntag selbst werden in vielen Kirchen die Namen der Verstorbenen des letzten Kirchenjahres verlesen, und es wird für die Angehörigen gebetet.

Daß unsere Auseinandersetzung mit Tod und Sterben einen Ort im Kirchenjahr und feste Rituale hat, ist hilfreich. Denn diese Auseinandersetzung ist nicht leicht. Wir gedenken Verstorbener, die uns viel bedeutet haben: am Ende eines gemeinsamen langen und guten Lebens ist der Partner gegangen. Nach einer langen und schweren Krankheit haben wir ein Familienmitglied oder einen guten Freund verloren. Da gab es einen Unfall, und plötzlich ist einer nicht mehr da, mitten aus dem Leben gerissen. Da ist jemand durch die Schuld eines anderen gestorben, und wir fragen nach dem Sinn.

Totensonntag bedeutet also: noch einmal Trauer über den Verlust durchleben, Abschied nehmen, Wut, Ohnmacht, Schmerz noch einmal zu spüren.

Und: die Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen führt zu der Frage nach dem eigenen Tod. Auch ich werde einmal sterben. Wie wird das sein? Was erwartet mich? Was wird von mir bleiben? Gut, daß es einen Platz im Jahr für dies alles gibt.

Die biblischen Texte, die sich im Umfeld dieses Tages finden, reden von der Vergänglichkeit des Menschen. Sie tun dies in Bildern. Das menschliche Leben ist wie Gras, das verdorrt und zu Heu wird, wie eine Blume, die morgens blüht und abends welk ist. Das Leben geht schnell zu Ende, und wir haben es nicht in der Hand. Flüchtig und nichtig ist das Leben. So erzählen es auch die Gesangbuchlieder, die oft in Zeiten großer Bedrängnis und Not entstanden sind und die wiedergeben, was Menschen zu allen Zeiten bis heute erfahren haben. Gegen den Tod gibt es keine Versicherung, er ist nicht zu planen. Das macht uns Angst, die wir uns doch so gerne gegen alles und vor allem absichern. Und es stellt sich die Frage nach unserem Leben: was ist es wert? Wozu lebt man, wenn am Ende der Tod kommt und alles vorbei ist?

"Das Gras verwelkt, die Blume verdorrt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit." So heißt der Spruch für den Monat November in diesem Jahr (Jes. 40,8). Unserer Erfahrung von Vergänglichkeit und Sterben wird Gottes Wort gegenübergestellt, das ewigen Bestand hat. Gottes Wort tröstet und ermutigt, macht Hoffnung und läßt umkehren. Gottes Wort ist die Botschaft von der Auferstehung Jesu von den Toten. Gottes Wort ist zukunftweisend, ist das, was bleibt, wenn wir nicht mehr sind. Es öffnet Horizonte, die weiter sind als unser eigener, es läßt uns teilhaben an Gottes Ewigkeit. Das verändert unsere Beschäftigung mit Tod und Sterben. Die Verstorbenen, um die wir trauern, haben einen Platz in dieser Ewigkeit, sie sind aufgehoben und bewahrt bei Gott. Das verbindet uns weiterhin mit ihnen. Klage und Fragen nach dem Sinn des Lebens angesichts des Todes haben eine Adresse - wir richten sie an Gott. Unser eigener Tod bleibt schmerzliche Realität, ist aber nicht das letzte und Endgültige. Seit Jesu Auferstehung von den Toten ist er kein Abschluß, sondern ein Durchgang, von einer Ewigkeit zur anderen.

So heißt der letzte Sonntag im Kirchenjahr ja auch noch Ewigkeitssonntag, und die Texte und Gesangbuchlieder erzählen in Bildern voller Sehnsucht und Erwartung von dieser Ewigkeit. Blumen sind da Zeichen des Lebens. Menschen leben in Frieden, Tränen werden abgewischt, aller Zwist, Zweifel und Ängste sind vorbei. Was wir in diesem Leben schon manchmal in kleinen Stücken erleben, das ist dann vollkommen.

Der tschechische Dichter Ludvik Askenazy hat vor vielen Jahren ein kleines Buch herausgegeben, in dem er Gespräche mit seinem kleinen Sohn aufgeschrieben hat. Einmal, im Frühling, in der Nähe eines Krematoriums, sieht der Junge zum ersten Mal in seinem Leben einen Leichenwagen mit einem Sarg. Er fragt den Vater nach dem Tod und dem Sterben. "Müssen alle sterben? Auch du und ich? Auch die Blumen?" - "Ja", sagt der Vater und möchte ihn vom Thema ablenken. "Muß der Verstorbene immer hinten liegen?" fragt der Junge. Das findet er am schlimmsten und mit Tränen in den Augen fragt er den Vater: "Vati", sagt er, "könnte ich nicht, wenn ich sterbe, neben dem Chauffeur sitzen?" "Freilich", antwortet der Vater, "das ginge."

Und der Vater schreibt weiter: "Seit der Zeit fürchtet er sich nicht mehr vor dem Tod. Und ich fürchte mich auch nicht mehr. Wo wir doch neben dem Chauffeur sitzen werden." Was kann uns Besseres passieren? Wie auch immer Sie den Totensonntag erleben, vergessen Sie nicht: wir werden vorn sitzen, bei Gott, in alle Ewigkeit. N

Seit bald 200 Jahren gibt es in Deutschland den Totensonntag

Letzte Ruhestätte: Ein Friedhof in idyllischer Lage bietet den Lebenden Zeit zur Besinnung