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29.11.03 / Statt glanzvoller Metropole ist Berlin vor allem hinsichtlich Schulden und Bevölkerungsarmut Vorreiter 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. November 2003


Die Stadt der geplatzten Träume
Statt glanzvoller Metropole ist Berlin vor allem hinsichtlich Schulden und Bevölkerungsarmut Vorreiter 
von Thorsten Hinz

Auch den professionellen Spöttern in Berlin, die von der politischen Klasse der Stadt querbeet durch alle Parteien noch nie etwas gehalten haben, ist das Lachen vergangen. Es geht nicht mehr nur darum, hochgesteckte Metropolen-Träume zu dekonstruieren oder größenwahnsinnige Weltstadt-Politiker auf ihr tatsächliches Maß zurückzustutzen, es geht um die ökonomische, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Substanz der Stadt. Nicht einmal hysterische Heiterkeit, die aus spontaner Verzweiflung kommt, ist mehr möglich. In der Stadt herrscht Depression.

Anfang November hat das Berliner Landesverfassungsgericht einer Klage der Opposition gegen den Haushalt stattgegeben. Es hat festgestellt, daß Berlin seit 2001 verfassungswidrige Haushalte hat, das heißt, Neuverschuldung und Investitionen stehen in einem grotesken Mißverhältnis. Existierte zwischen beiden Bereichen im Jahr 2000 noch ein fragiles Gleichgewicht, lagen im Jahr darauf die Ausgaben für Bauen, Infrastruktur, öffentlichen Nahverkehr bei zwei Milliarden Euro - gegenüber einer Neuverschuldung von 6 Milliarden. Im laufenden Jahr liegt das Verhältnis bei 1,97 zu 4,3 Milliarden Euro. Die Prognosen für die nächsten Jahre bewegen sich ebenfalls in dieser Größenordnung. Daraus ergibt sich, daß der Schuldenberg nebst Zinszahlungen unverdrossen wächst. Von 37,2 Milliarden im Jahr 2000 auf über 51 Milliarden heute soll er 2006 auf knapp 63 Milliarden steigen. Und das bei einem Landeshaushalt von rund 20 Milliarden Euro!

Das Verfassungsgericht hat in dieser Situation dem Berliner Senat aufgefordert, die Notwendigkeit der vorgesehenen Ausgaben substantieller zu begründen.

Daraufhin wurde von der Landesregierung eine Haushaltssperre verhängt. Um einen verfassungskonformen Etatentwurf zu erarbeiten, kommen erneut alle Ausgaben auf den Prüfstand. Unter dem Druck der Verhältnisse mutiert PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf zum Neoliberalen, der weder Ost noch West kennt. Ein bis zwei Milliarden Euro - das sind bis zu zehn Prozent des laufenden Haushalts - hält er für schwer begründbar und damit für disponibel. Es geht um die freiwilligen Leistungen in den Bereichen Kultur, Bildung sowie Familien-, Jugend- und Kinderbetreuung. Wieder wird das Gezerre losgehen, und in den Institutionen, die auf Planungssicherheit gehofft hatten, beginnt erneut das Zittern.

Einige der aktuellen Fragen lauten: Schließt das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Bildung auch die Integration behinderter Kinder ein? Braucht es dazu drei Universitäten in der Stadt? Gehört es zu den kulturellen Aufgaben des Landes, drei Opernhäuser und noch mehr Theater zu unterhalten? Sind zwei Tierparks, einer in West, der andere in Ost, nötig? Was ist mit der Sportförderung? Von einer aktiven Gestaltung städtischen Lebens ist längst keine Rede mehr, auch nicht mehr von der Verwaltung des Mangels. Was ansteht, ist das Managment der Armut durch eine überforderte Politik.

Die heutigen Probleme sind nicht nur finanzpolitischer Natur. Die Geschichte Berlins nach dem Mauerfall ist zum großen Teil eine Geschichte der geplatzten Träume. Die Wirtschaft will, allen Autosuggestionen zum Trotz, nicht wachsen, sie ist sogar in Schrumpfung begriffen.

Wer erinnert sich noch an Begriffe wie "Kompetenzzentrum", "Drehscheibe" oder "Brücke nach Osten", die vor Jahren inflationär im Umlauf waren, um die zukünftige Rolle Berlins zu bezeichnen? Die Wahrheit ist, daß die Verkehrsverbindungen in Richtung Osten noch immer nicht den Vorkriegsstand erreicht haben. Das mehr als zehnjährige Gezerre um den Berliner Großflughafen ist zur Lachnummer geworden, die sich auch deshalb bald erübrigen dürfte, weil gar nicht genug Interessenten da sind, die ein Berliner "Luftkreuz" benutzen wollen. Denn keine Großbank, kein Großkonzern, kein internationales Wirtschaftsunternehmen reißt sich darum, sein Hauptquartier nach Berlin zu verlegen. Die Europa-Zentrale von Sony und der Sitz der Deutschen Bahn am Potsdamer Platz bilden die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Büroflächen werden wie Sauerbier angeboten.

Hamburg oder Wien haben vom Mauerfall wirtschaftlich viel stärker profitiert als Berlin. Der ehemalige Vizepräsident der DDR-Staatsbank, Edgar Most, der es in der Deutschen Bank zum Direktor gebracht hat, warnte in einem Interview davor, sich jetzt schon wieder in Illusionen zu wiegen und von der EU-Osterweiterung zu viel zu erhoffen. Die wirtschaftlichen Gewinner würden die ohnehin starken Regionen in West- und Süddeutschland sein. Verantwortlich dafür seien auch handwerkliche Fehler der Berliner Politik: Nahezu alle Außenhandelsbetriebe der DDR befanden sich in Ost-Berlin. Hinzu kamen die Akademie der Wissenschaften und andere Forschungseinrichtungen. Überall arbeiteten Menschen mit Kontakten nach Osten, denen mit der Privatisierung meistenteils gekündigt wurde.

Die Gründe der Berliner Malaise liegen nicht nur in der Stadt. Wie in einem Brennspiegel zeigen sich hier Entwicklungen und Zusammenhänge, die die deutschen Nabelbeschauer zu lange ignoriert haben. Der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel hält das Drehscheibenkonzept prinzipiell für antiquiert. Europaweit würden die Regionen gestärkt, nicht einzelne Städte. Dieser Befund aber läßt die Lage Berlins noch hoffnungsloser erscheinen, denn das Umland im engeren Sinne heißt Brandenburg, im weiteren Sinne ist es die ehemalige DDR. Es handelt sich um beinahe deindustrialisierte Gebiete. Die Annahme, inmitten dieser ökonomischen Brache könne eine prosperierende Insel entstehen, war stets nur ein Hirngespinst.

Überhaupt driften Selbstwahrnehmung und tatsächliche Lage in Berlin bis zur Lächerlichkeit auseinander. Wenn ein paar Modeateliers im gerade "angesagten" Bezirk Friedrichshain eröffnen werden, wird Berlin zur "Hauptstadt der Mode" erklärt. Und wenn krisengeschüttelte Musikfirmen mit EU-Fördergeldern in die leerstehenden Büros an die Spree gelockt werden, rufen die Lokalzeitungen die "Hauptstadt der Musik" aus! Das besagt: Auch in geistig-kultureller Hinsicht hat sich der Metropolen-Anspruch bisher nicht erfüllt. Von den Berliner Theatern ist heute einzig die Volksbühne unverwechselbar. Im übrigen hat man die Wiederkehr der mythisch überhöhten 20er Jahre beschworen und popkulturelle "Events" gepflegt in der Hoffnung, die Welt schaue darauf. Das hat sie zunächst auch getan. Doch die Popkultur ist schnellebig. Sogar die Love Parade befindet sich in der Agonie, und was als Identifikationssymbol an ihre Stelle treten könnte, ist völlig unklar.

Ein Gemeinwesen benötigt aber ein Identifikationsangebot, einen ideellen Überbau, der über die mühevollen Ebenen der Tagespolitik hinausweist. Nichts anderes ist mit der vielfach erhobenen Forderung gemeint, der Berliner Senat müsse endlich einmal das Ziel seiner Sparpolitik, seine Vision von der Zukunft der Stadt erklären. Der Regierende Party- pardon: Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ist dazu schon deswegen nicht in der Lage, weil er sich im Dauerwettbewerb für den Pokal um die zertanzten Schuhe befindet. Wowereit ist der typische Vertreter des alten West-Berlin, und eine neue, bürgerliche Stadtelite hat sich bisher nicht etabliert. Der fehlende Zuzug an wohlhabenden Neubürgern bedeutet zudem, daß es in der Stadt weiterhin an Sponsoren, Mäzenen und Käufern von Kunst fehlt. Luxuriöse Grunewaldvillen stehen leer, obwohl ihr Preis um 20 Prozent gefallen ist, und ohne die dubiose Gattung neureicher Russen sähe es noch schlimmer aus.

Der wirtschaftlichen Dauerkrise kann nicht einmal mehr der Volksbühnen-Chef Frank Castorf viel abgewinnen, obwohl er sonst die Produktivität des Chaos beschwört. Schon vor zwei Jahren bekam er im Kulturausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses einen Wutanfall, als es um den - vergleichsweise bescheidenen - Zuschuß für sein Haus ging. Wie eine Nutte, die auf den Strich geht, fühle er sich mittlerweile, polterte er und verwies auf Angebote, die er von außerhalb erhält.

Berlin-Besucher wundern sich, wie oft sie von Einheimischen angesprochen werden, ob ihnen die Hauptstadt denn gefiele. In keiner anderen deutschen Großstadt sei das der Fall. Sie sehen darin den Beweis für den Provinzialismus, der hier in Wahrheit herrsche. Und sie haben ja recht, wenn sie Hohn und Spott über die schlechtgekleideten Berliner ausschütten, die sich in der Regel gar nicht wie Großstädter, sondern wie verirrte Dörfler verhalten. Fast unmöglich, in der S-Bahn ein Buch zu lesen, weil der Gegenüber einem die Bierfahne ins Gesicht rülpst oder detaillierte Intimitäten ins Handy brüllt. Die üblichen Erklärungen für solche zivilisatorischen Mißstände: die Aderlässe durch Diktaturen, Krieg und Mauerbau, die plebejische Tradition der Stadt, die historisch ein Zusammenschluß von Kleingemeinden ist, reichen nicht mehr aus. Der Verwahrlosung, die hier öffentlich wird, liegt auch keine Ästhetik der Häßlichkeit zugrunde, die immerhin ein kultureller Gegenentwurf wäre, sondern sie spiegelt das soziale und menschliche Elend der Sozialstatistiken wider. Man kann über den Zusammenhang von ästhetischer und ökonomisch-sozialer Misere nicht hinwegsehen. Niemand soll sich etwas vormachen: In Berlin vollzieht sich ein Bundestrend!

Nur drückt er sich hier noch etwas rabiater aus. 1990 lagen die mittelfristigen Bevölkerungsprognosen bei 5 Millionen Einwohner. Die aktuelle Zahl liegt bei 3,3 Millionen, ein Rückgang ist wahrscheinlich. Den Nimbus der "jungen" Stadt verdankt Berlin zum Großteil den Studenten. Nur wandern die hinterher wieder ab, weil es in der Stadt keine attraktiven Arbeitsplätze gibt. Außerdem werden die Hochschulen gerade zur Ader gelassen, als wäre ihre Ausstattung nicht jetzt schon katastrophal. Unter diesen Umständen können von ihnen keine inspirierenden Impulse ausgehen. Noch wirkt es dekorativ, wenn junge Leute den ganzen Tag in Cafés herumsitzen und dreinschauen, als gehe an ihnen gerade ein Alfred Döblin verloren. Hartz II bis IV wird auch diesen Hinterbliebenen der New-Economie- und Medien-Szene den Garaus machen.

Die neuesten Stadtplanungen sehen den Verzicht auf umfassende Entwicklungs- und Befriedungskonzepte vor. Das neue Motto heißt Konzentration. Der arm gewordene Staat kann nicht mehr länger die Armut seiner Bürger kompensieren. Der erzwungene Verzicht auf "Quartiersmanagement" und Sozialarbeit wird die sogenannten Problembezirke noch weiter und schneller abdriften lassen. In Berlin leben Menschen aus 182 Ländern, 13 Prozent der Berliner haben einen ausländischen Paß, was stets als Zeichen von Urbanität gefeiert wurde. "Urban" bedeutet aber: großstädtisch, gebildet, weltgewandt, tolerant. Doch der Zustrom aus dem Ausland wird bedauerlicherweise durch keine Wirtschafts- oder Kulturelite bestimmt, sondern von Leuten, die zuerst die Sozialämter stürmen.

Wenn die anatoliche Provinz in Berlin ansässig wird, sich hier konsequent abschottet und Parallelstrukturen bildet, kann von der "Bereicherung" Berlins keine Rede sein. Wer in türkischer oder kurdischer Sprache Analphabet ist, bleibt es in der Regel auch auf Deutsch. Seine "Integration" findet ausschließlich in dem überlasteten Sozialsystem statt, zu dessen Erhalt er nichts beiträgt. Rund 300.000 Bürger erhalten Sozialhilfe, ihre Bezieher konzentrieren sich auf die Bezirke Wedding, Neukölln und Kreuzberg, wo der Ausländeranteil mehr als überdurchschnittlich ist. Aus dieser Inanspruchnahme aber folgt noch lange keine Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat, im Gegenteil. Die Polizei sieht sich hier massiven, zum Teil lebensbedrohlichen Attacken ausgesetzt. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Gerade wurden 90 kriminelle Türken, die in ihr Herkunftsland abgeschoben werden sollten, flugs aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen. Damit sind sie wohl endgültig ein Problem des Landes Berlin.

Auch eingefleischte Multikulti-Propagandisten sehen sich inzwischen mit der Frage nach der kulturellen Hegemonie konfrontiert. Die Tendenzen, die die Zukunft bestimmen, kündigen sich zumeist an den Rändern an. In Schöneberg, einem traditionellen Schwulenkiez, sieht die einschlägige "Community" sich einem massiven Druck durch junge muslimische Mitbürger ausgesetzt, die ersten Einrichtungen schließen schon. Zur Fröhlichkeit auf der "Titanic Berlin" besteht kein Grund mehr, eher schon zur Panik.

Gescheiterte Zukunftsvision: Historie und Moderne sollten in ihrer einmaligen Mischung Berlin zu etwas Besonderem machen und Neubürger wie Unternehmen gleichermaßen in die deutsche Hauptstadt strömen lassen. Während die Touristen das Angebot nutzen, bleiben viele der erhofften Firmen und der Bevölkerungszuwachs aus. Foto: www.berlin-tourist-information.de

Neuverschuldung und Investitionen stehen in einem Missverhältnis

Die Armut in der Hauptstadt wird immer offensichtlicher / Herrscht bald Panik auf der "Titanic Berlin"?