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29.11.03 / Dämmerstündchen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. November 2003


Dämmerstündchen
von Renate Dopatka

Bevor sie sich ins Auto setzte, winkte Beate noch einmal der kleinen, hageren Gestalt auf dem Balkon zu. Es war früh dunkel geworden an diesem regenschweren Wintertag. Vom Parkplatz des Seniorenheimes aus waren gerade noch das helle Gesicht und die erhobene Hand der Großmutter deutlich auszumachen. Ausdruck und Haltung ließen sich nicht bestimmen, doch Beate glaubte selbst jetzt etwas von der Ruhe und inneren Fröhlichkeit zu spüren, die von der winkenden Gestalt ausgingen.

Ein feiner Nieselregen setzte ein, trieb zu raschem Aufbruch. Hastig legte Beate die ihr beim Abschied von der Großmutter überreichte Konfektschachtel auf den Beifahrersitz und drehte den Zündschlüssel um. Schließlich wollte sie Thomas, der in einer halben Stunde von der Arbeit nach Hause kam, nicht mit durchnäßter Frisur unter die Augen treten. Beim ersten Ampelstopp schaute sie besorgt in den Rückspiegel, Nein, mit den Haaren war alles in Ordnung. Sie schluck-te, kämpfte das aufsteigende Unbehagen nieder. Alles in Ordnung. Wie schön, wenn sie dies auch von ihrer Ehe hätte behaupten können.

Der Gedanke an Thomas und das Schweigen, das sich zwischen ihnen eingenistet hatte, gewann mehr und mehr die Oberhand. Irgend etwas stimmte nicht, aber sie brachte nicht den Mut auf, nach der Ursache zu fragen. Ein Blick in das abwesend, ja versteinert wirkende Gesicht ihres Mannes genügte, um ihr Verlangen nach einer Aussprache im Keim zu ersticken. Ja, sie war ein rechter Hasenfuß, immer bemüht, Konflikten aus dem Weg zu gehen ...

Beate lächelte traurig. Liebend gern hätte sie die optimistische Grundhaltung und Tatkraft ihrer Großmutter geerbt. Für jedes Problem gibt es eine Lösung - man muß es nur anpacken!, lautete deren Devise. Und wenn die Lage wirklich einmal aussichtslos schien, so tröstete sie sich und andere mit dem Spruch, daß nichts so schlimm war, wie es einem die Phantasie vorgaukelte.

Ja, die Großmutter war ein Mensch, der mutig in die Zukunft blickte, selbst wenn diese in unheilvolle Wolken gehüllt war. Vielleicht half ihr dabei ihr Glaube, ihre tiefe Religiosität, vielleicht auch ihre Lebenserfahrung. Statt wie manch anderer bitter zu werden, hatte sie ihr Schicksal einfach angenommen und das Beste daraus gemacht. Ob es der Verlust der geliebten masurischen Heimat war, die Strapazen der Flucht oder der schwierige Neubeginn auf fremder Scholle - in allem hatte die Großmutter eine Bewährungsprobe gesehen, die es zu bestehen galt. Den Kopf in den Sand stecken, sich von Ängsten und Sorgen aufreiben lassen - so etwas wäre ihr nie in den Sinn gekommen ...

Diese und ähnliche Gedanken zogen Beate durch den Kopf, als sie die Wohnungstür aufschloß. Tiefe Stille empfing sie, an der sich, wie sie wußte, auch mit Thomas' Heimkommen nicht viel ändern würde. Beates Schultern strafften sich. Plötzlich hatte sie nicht die geringste Lust, sich jetzt in die Küche zu stellen und brav das Abendessen vorzubereiten. - Sie würde es anpacken, das Problem, auf ihre stille, ureigenste Weise! Das Wissen um ihre Wurzeln kam ihr dabei zu Hilfe. Schließlich sollten bei ihrem Vorhaben gewisse ostpreußische Gepflogenheiten Pate ste- hen ...! Und so setzte sie sich, ohne Licht zu machen, ans Wohnzimmerfenster und öffnete behutsam die in zartes Seidenpapier gehüllte Konfektschachtel. Sie glaubte zu wissen, was drin war. Echtes Königsberger Marzipan - etwas anderes kam für Großmutter gar nicht in die Tüte! "Das reinste Magenpflaster!", pflegte sie zu behaupten. Daß diese Aussage stimmte, davon hatte Beate sich schon viele Dutzend Male selbst überzeugen können.

Auch jetzt genoß sie das milde, unaufdringliche Aroma dieser ostpreußischen Spezialität. Es war wunderbar entspannend, einfach dazusitzen, auf die regennasse Straße hinauszusehen und das Glitzern der Lichter im stockenden Feierabendverkehr zu beobachten. Nur unterschwellig vernahm sie, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Im Korridor flammte Licht auf. Dann ertönte Thomas' verwunderte Stimme: "Keiner zu Hause?" Sie ließ ihn suchen, regte sich erst, als er ins Wohnzimmer trat und die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte. "Bitte nicht!" rief sie leise. "Ja, wieso - was ist denn los?" Im Dunkeln tastete er sich zu ihr hinüber, krampfhaft bemüht, nicht irgendwo gegenzurennen. "Was machst du da bloß?" fragte er irritiert, als er jetzt an ihren Sessel stieß.

Sie schaute in sein von der Straßenlaterne schwach erhelltes Gesicht, das keineswegs versteinert wirkte, sondern Ratlosigkeit und eine gewisse Besorgnis zeigte. "Noch nie was von Dämmerstündchen gehört ...?", entgegnete sie ruhig. Und ehe er sich's versah, hatte sie ihm ein Stückchen Marzipan in den Mund gesteckt. "Also wirklich!" brummte er unwillig; doch sie hörte keinen Tadel, nur unterdrückte Heiterkeit in seiner Stimme heraus.

Und wie sie es sich erhofft hatte, streifte Thomas seine Jacke ab, lockerte die Krawatte und zog sich ebenfalls einen Sessel heran. Abwechselnd naschten sie beide von Großmutters Marzipan, lauschten auf das Rauschen des Regens, und langsam entstand jene besondere, wohlig-weiche Stimmung, wie Beate sie lange nicht mehr erlebt hatte. Die alte Vertrautheit - sie war wieder spürbar. Im Schutz der Dunkelheit begann Thomas dann von seinen Schwierigkeiten im Betrieb zu erzählen, von dem neuen Kollegen, der ihn bei den Vorgesetzten madig zu machen versuchte, um so an seinen Posten zu kommen ...

Der Abend war weit vorgeschritten, als sie endlich Licht anknipsten. "Komisch, ich hab' gar keinen Hunger mehr", lächelte Thomas. "Dieses Marzipan sättigt ja ungeheuer!" Er legte den Arm um sie: "Mach' dir keine Sorgen, Liebes. Ich werd' mich schon durchbeißen im Büro. Und wenn's ganz dicke kommt ..." Sein Lächeln vertiefte sich. "... dann halten wir eben einfach wieder Dämmerstündchen. Das bringt's bestimmt ...!"