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06.12.03 / Wismar - das Honkong des Nordens

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Dezember 2003


Wismar - das Honkong des Nordens
Erst vor 100 Jahren kehrte die schwedische Kolonie endgültig nach Deutschland zurück 
von Ulrich Schacht

So fangen Märchen an: Es war einmal ein rauschendes Fest, und es dauerte viele Tage. Gaukler kamen, und Minister, Bäk-ker, Kaufleute, Senatoren, ein leibhaftiger Reichtagspräsident aus Stockholm und zahllose Bürger von nah und fern, darunter über 250 Schweden. Der Himmel tat ein übriges, er strahlte über der Stadt am "Mare Balticum", die ein einziger Festplatz war: Im Rathaus wurde gefeiert, und auf dem Marktplatz, in Kirchen, Gassen, Wirtshäusern und Hotels, auf Plätzen, in Parks, am Hafen. Und als die Zeit des Feierns zu Ende war, zogen die Gäste von auswärts wieder davon, die Bürger der Stadt gingen in ihre Häuser zurück, die Musiker packten ihre Instrumente ein, Fahnen an Straßen und Gebäuden wurden herabgeholt: die rotweißrotweißen der Stadt, die blauweißrotgelben Mecklenburg-Vorpommerns, die schwarzrotgoldenen Deutschlands - und die himmelblauen mit dem gelben Kreuz des Königreichs Schweden.

Ja, Schwedens! Denn die norddeutsche Stadt, in der unter all diesen bunten, flatternden Fahnen so heftig gefeiert wurde und vielfältig schwedische Stimmen und Musikkapellen ertönten, heißt Wismar, und sie war, völkerrechtlich gesehen, tatsächlich bis 1903 im Besitz Schwedens. Wismar, ein Gründungsmitglied der Hanse, liegt zwar seit fast 800 Jahren unverrückbar an der westlichen Ostseeküste Mecklenburgs und ist, zusammen mit Stralsund, wegen ihres vollkommen erhalten gebliebenen mittelalterlichen Stadtkerns seit Sommer 2002 ein anerkannter Posten auf der Liste des Weltkulturerbes der Unesco. Aber die alte Stadt ist auch historisches Subjekt eines lange währenden, einst fast ins Geheimnis abgesunkenen geschichtlichen Zustandes: Sie war die letzte Kolonie Schwedens am südlichen Ufer der Ostsee. Eine Art Hongkong des Nordens, das Schweden geblieben war von all der herrlichen Beute auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am Ende des 30jährigen Krieges 1648. Den Protestanten Deutschlands brachte die schwedische Invasion des Reiches unter Gustav II. Adolf fortan zwar gesicherte Existenz, aber der Preis für die protestantischen Hansestädte Wismar, Stralsund, Greifswald, für Rügen und andere Gebiete an der mecklenburgischen und pommerschen Ostsee sowie Bremen und Verden im We- sten war hoch: Er hieß Fremdherrschaft. In Wismar dauerte sie de jure am längsten. 1803, im Malmöer Pfandvertrag, ging die Stadt zwar für 1.250.000 Reichstaler Hamburger Banco an das Großherzogtum Mecklenburg zurück, aber nur auf 99 Jahre. Ein ruiniertes Gemeinwesen, das buchstäblich am Zusammenbrechen war. Erst 1903 verzichtete Schweden endgültig auf seine diesbezüglichen Rechtsansprüche. Die Zeit dafür war vorbei; das zweite Kaiserreich der Deutschen existierte bereits über ein Vierteljahrhundert.

Hätte Schweden jedoch keinen Verzicht geleistet, wäre die Stadt erst im vergangenen Sommer, genauer: am 26. Juni 2003, nach Deutschland zurückgekommen. Aber hätten ihre Bürger das dann auch noch gewollt? Hätten sie nicht vielmehr, wie heute die Einwohner Gibraltars, unbedingt um den endgültigen Verbleib im Schutze der "Kolonialmacht" gekämpft? Daß das nicht pure Spekulation ist, zeigt eine Notiz von 1721 im Kirchenbuch der Marienkirche der Stadt: "Der Schwedengott lebt noch,/ ihr Volk wird bald hier kommen./ Es ist das Dänisch Joch/ schon von uns abgenommen."

Gereimte Freude über den erzwungenen Abzug der ungeliebten Dänen, die Wismar zeitweilig besetzt hatten. Die fünftägige Re-Okkupation Wismars in diesem Jahr durch schwedische Kultur-Truppen in historischen Uniformen, die in der Stadt musizierten, patrouillierten und exerzierten, wurde jedenfalls mit derselben Intensität gefeiert, wie es die Bürgermeisterin der Hansestadt, Dr. Rosemarie Wilcken, außerordentlich berührt hatte, schon im Mai dieses Jahres, in einer Ansprache König Carl XVI. Gustaf in Stockholm beim Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten, die besondere Bindung zwischen Schweden und der Stadt so deutlich hervorgehoben zu sehen.

Geschichte. Geschichte, die schon lange nicht mehr schmerzt. Die die gegenwärtigen Bürger Wismars sogar eher stolz macht: Verwandtschaftsgeschichte. Genauer: gekrönter Verwandtschaft. Das ist in den faden republikanischen Tagen von heute etwas ganz Besonderes. Ich weiß, wovon ich rede: Wismar ist meine Heimatstadt, und seit fünf Jahren lebe ich in Schweden. Aber bin ich tatsächlich dort angekommen, wo ich, ortsgeschichtlich gesehen, ein Stück weit herkomme? Was konnte Schweden einem Jungen von dreizehn, vierzehn Jahren im Wismar der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wirklich bedeuten? Als die Stadt Teil des sowjetischen Machtbereichs war. Was dem 20jährigen Theologiestudenten 1971, der sich mit anderen seiner Generation im politischen Widerstand gegen die kommunistische Diktatur der DDR befand? Inspiriert von geistigen Mentoren aus der protestantischen Kirche, die schon dem NS-Regime widerstanden hatten. Dem Jungen, der sich bereits früh in die Biographie seiner Stadt hineindachte, bedeutete der schwedische Anteil daran ein übers Meer führendes Abenteuer im Kopf, das sich an den in der Stadt vorfindbaren symbolischen Resten der einstigen Kolonialmacht entzündete, an Gebäuden aus jener Zeit wie dem Zeughaus oder am Renaissancebau "Fürstenhof", in dem über 150 Jahre lang das höchste schwedische Gericht auf deutschem Boden verhandelt hatte.

In St. Nikolai fand sich das prachtvolle Grabmahl des schwedischen Generals Wrangel und seiner Frau: zwei lebensgroße Holzfiguren auf einer Grabplatte. Der General in voller Rüstung à la 1647. Das metallene Original, ein magisch anziehendes Faszinosum, hing im Heimatmuseum. Wie oft bewunderten meine Freunde und ich sie, die schwedischen Schwerter und Hellebarden daneben, im Kopf die Sage vom schwedischen Trommler. Er sollte, zum Tode verurteilt und um sich zu retten, einen Gang unter der Stadt erkunden. Noch lange hörte man den dumpfen Klang der Trommel unter dem Pflaster, dann aber verstummte er für immer.

Und im ältesten Bürgerhaus der Stadt am Markt, einem gotischen Bau aus dem 14. Jahrhundert, gab es ein Restaurant mit dem Namen "Alter Schwede". Der dämmrige, immer von Tabakqualm vernebelte Schankraum war vollgestopft mit Rüstungen, Waffen, Urkunden, Kupferstichen und Bildern aus der Schwe- denzeit, mit maritimen Gegenständen und präpariertem Seegetier und einer Büste Gustav II. Adolfs.

Schließlich wußte der Junge auch schon von den "Schwedenköpfen", legendären Souveränitätszeichen, die zwar nicht mehr wie einst auf Pfählen im Hafenwasser standen, sondern augennah im Heimatmuseum. Eine letzte Erklärung für die mächtigen, bunt bemalten Holzköpfe fand sich jedoch auch hier nicht. Mythische Male einer untergegangenen Zeit, die einem etwas sagten, was man zwar nicht verstand. Aber das Wissen um dieses Geheimnis machte einen zu etwas Besonderem, vor allem gegenüber Freunden aus den Nachbarstädten Rostock oder Schwerin, die sich mit solchen exotischen Geschichts-Assessoires nicht schmücken konnten. Heute steht eine Miniaturnachbildung aus gebranntem Ton auf meinem Schreibtisch in Skåne.

Der frischgebackene Theologie-Student jedoch, der zwar in Rostock studierte, aber nach wie vor in Wismar wohnte, er schwärmte schon vom Modell "Schweden". Palme fand er groß, das "Volksheim" als Chiffre für einen skandinavisch gefärbten demokratischen Sozialismus war ihm glanzvolle Alternative eines "dritten Weges" zur SED-Diktatur, die nichts so sehr fürchtete wie eben dieses Theorem und seine Praxis.

Später im Westen, nach Jahren politischer Haft von der Bundesrepublik freigekauft, las er Berichte über die Schattenseiten des Modells, eine äußerst kritische Reportage Hans Magnus Enzensbergers in der Zeit irritierte ihn tief. Das sollte auch Schweden sein? Hatte er nicht mit glühendem Kopf den Briefwechsel zwischen Olof Palme, Bruno Kreisky und Willy Brandt gelesen über den "demokratischen Sozialismus" in ihren Ländern? Natürlich hörte er von unglaublich hohen Steuermargen, von aus diesem und anderen Gründen fortgegangenen Intellektuellen und Künstlern wie Ingmar Bergmann, dessen Filme er so liebte. Später verabschiedete sich Lars Gustafsson nach Texas. Waren das nun exaltierte Egoisten oder prominente Zeugen eines politischen Weges, der auch hier zum Irrweg mutierte: Ideologie, Bürokratie, Observation, Repression? Aber wenn man glaubt, was kann einen da erschüttern? Zuletzt jedenfalls die Wirklichkeit, dialektisch gesagt.

In Wismar war die schwedische Wirklichkeit für mich noch reine Vergangenheit und Zukunft in einem: verblaßtes stadtgeschichtliches Ornament, aber schon deutlich werdendes Element politischer Perspektive. In Streitgesprächen mit Anhängern oder Mitläufern des Systems beriefen wir uns frech darauf: DDR, FDJ, SED? Was wollt ihr von uns, wir sind Südschweden! Das war unter opponierenden Jugendlichen meiner Generation ein geflügeltes Wort. Es war auf kuriose Weise eindeutig; gefährlich war es dennoch nicht, weil es so absurd klang. Wie ein Witz aus dem Irrenhaus.

Die großen weißen Schiffe, die wir in jenen Jahren vom Strand aus in der Ferne vorbeifahren sehen konnten, waren kein Witz. Sie waren real, kamen aus Lübeck-Travemünde und fuhren auch nach Schweden. Aber der Strand, von dem aus wir sie beobachteten, war Grenzgebiet. Mit einbrechender Dunkelheit verwandelte er sich in ein gespenstisches Gelände, durch das schwerbewaffnete Soldaten patrouillierten, die Lichtkegel starker Scheinwerfer wischten über Sand und Meer, Hunde schlugen an. Wir saßen tatsächlich in einem Irrenhaus; doch die Irren waren nicht wir. Es waren die Wärter. Sie schossen auf alles, was ihnen zur falschen Zeit und Stunde am falschen Ort über den Weg lief.

Nur wenn die "Ostseewoche" stattfand - eine gigantische Propagandashow zwischen Wismar, Rostock und Stralsund, die einmal im Jahr auch zahlreiche Schweden aus vornehmlich linken Parteien, aus Gewerkschafts- und Künstlerverbänden in die DDR zu "Friedensgesprächen" lockte -, lag der Küstenstreifen, in dem wir lebten, Bezirk Rostock genannt, scheinbar tatsächlich an einem "Meer des Friedens", wie die Hauptparole lautete. Ein Hauch "nördlicher" Westen fiel dann auch auf Wismar, in den Geschäften gab es selten gewordene einheimische Waren wie Krabben oder Aal und ausländische Konsumgüter. Skandi-navisches Kino, skandinavische Mädchen, skandinavische Kunst und Literatur - wir wußten nicht mehr, wo uns der Kopf stand.

Solche Verwirrung nahm die totalitär herrschende Einheitspartei sieben potemkinsche Tage lang im Jahr lässig in Kauf - ihr ging es ums außenpolitische Image. Sie wollte als der fortschrittlichere deutsche Staat erkannt und deshalb politisch anerkannt werden. Später hat sie bekommen, was sie wollte; genützt hat es ihr nichts: Sie war bloß der rückschrittlichere deutsche Staat, auch wenn er genau dadurch - Ironie der Geschichte - deutsches Kulturbewußtsein viel länger bewahrte als der kulturindustriell durchamerikanisierte Westen. Aber der Untergang der DDR hat im letzten Moment den Untergang des urbanen Kleinods Wismar verhindert und dabei nicht nur alte Gemäuer gerettet, auch alte Verbindungen.

An diesem Punkt nun steigt eine wirklich historische Zäsur auf: Mit Schweden im Arm tanzte meine Heimatstadt nicht nur einen Gegenwartswalzer, um Vergangenheit zu feiern; sie tanzte einen Zukunftswalzer, um die Befreiungsgeschichten ihres Lebens nicht zu vergessen. Ich aber, der ich nun vom schwedischen Ufer aus zu ihr hinüberblicke, habe auch deshalb mit größtem Vergnügen zugeschaut, weil ich das Gefühl hatte, sie tanzt mir in dieser aus den Abgründen der Geschichte wiederaufgetauchten vertrauten Verbindung ganz einfach unwiderruflich entgegen. Hören so Märchen auf?

Spuren der einstigen Besitzer: Das älteste Bürgerhaus der Stadt (Mitte) trägt den Namen "Alter Schwede" Foto: f1-online

Auch zu DDR-Zeiten war Schweden

immer gegenwärtig

Wismar in Daten

1229 Erste urkundliche Erwähnung der Stadt Wismar

1250 Baubeginn der dreischiffigen Basilika St. Marien bis 1370

1256 Wismar wird Residenz der mecklenburgischen Landesherren

1259 Lübeck, Rostock und Wismar schließen Vertrag zur Sicherung ihrer Handelswege

1267 Vernichtung der Altstadt durch ein Großfeuer

1358 Verlegung der mecklenburgischen Residenz nach Schwerin

1380 Der Name des Seeräubers Klaus Störtebeker taucht in den städtischen Akten auf; Bau des "Alten Schweden", heute ältestes Bürgerhaus

1628 Wallenstein will Wismar für Habsburgs Seemachtspolitik ausbauen

1632 Schwedische Truppen besetzen die Stadt. Kapitulation der kaiserlichen Truppen in Wismar

1648 Wismar geht in den Besitz der schwedischen Krone über

1680 Ausbau Wismars zur größten Festung Europas

1803 Wismar geht per Pfandvertrag über 1.250.000 Taler für 100 Jahre an Mecklenburg zurück

1867 Der Beitritt Mecklenburgs zum Norddeutschen Bund führt zur Gewerbefreiheit und zur Auflösung des Zunftzwangs

1881 Rudolf Karstadt gründet das Stammhaus der erfolgreichen Warenhauskette.

1903 Vertrag über die endgültige Rückkehr Wismars an Mecklenburg