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06.12.03 / Vor 80 Jahren wurde Wolfgang Harich geboren 

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Dezember 2003


Wanderer zwischen den Systemen
Vor 80 Jahren wurde Wolfgang Harich geboren 
 von Thorsten Hinz

Wolfgang Harich war bis zu seiner Verhaftung 1956 eine der schillerndsten Figuren in der Intellektuellen-Szene der DDR. Auf dem Ersten, noch gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß 1947 in Berlin wurde der damals 23jährige einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als er im Namen der Generation junger Kriegsteilnehmer die Konzeption einer unpolitischen Dichtung attackierte. Er absolvierte eine atemberaubende Karriere als Theaterkritiker, Journalist und Phi-losophiedozent und wurde zu einer öffentlichen Person, mit der sich, wie vage auch immer, Hoffnungen auf einen entstalinisierten Sozialismus verbanden. Am 29. November 1956 wurde er von der Staats- sicherheit verhaftet und einige Monate später wegen "Boykotthetze" und "Bildung einer konspirativ-staatsfeindlichen/konterrevolutionären Gruppe" zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er mehr als acht verbüßte. Die meiste Zeit verbrachte er in Einzelhaft.

Nach der Amnestierung im Dezember 1964 blieb er in der DDR beinahe bis zum Schluß eine Unperson, er wurde in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr erwähnt. Seit 1989 versuchte er, durch Publikationen, Interviews und Lesungen wieder ins politische Leben zurückzukehren. Er war aber längst ein gebrochener, von Paranoia heimgesuchter Mann. Von den Aktivitäten seiner letzten Jahren - er starb im März 1995 - bleibt vor allem seine erbitterte Auseinandersetzung mit dem einstigen engen Mitstreiter und -häftling Walter Janka über die tatsächlichen Ziele der oppositionellen Harich-Janka-Gruppe in Erinnerung. Janka war im Oktober 1989 als Ikone eines längst irrelevanten Reformkommunismus auf den Schild gehoben worden. Im irrigen Glauben, aus der Deutungshoheit über die fünfziger Jahre ließe sich noch die Zukunft der DDR bestimmen, verletzten die beiden Ulbricht-Opfer sich bis aufs Blut. Es war der skurrile Schußpunkt eines von Hybris und Tragik überschatteten Lebens. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen.

Wolfgang Harich wurde am 9. Dezember 1923 in Königsberg als Sproß einer gutbürgerlichen Familie geboren. Wie die 1972 niedergeschriebene, "Ahnenpaß" betitelte Autobiographie zeigt, hat er seinen familiären und regionalen Hintergrund stets als bestimmend und prägend empfunden. Der Großvater väterlicherseits, Ernst Harich (1858-

1940), war Druckereibesitzer und Zeitungsverleger in Allenstein. Er gab sowohl die Allensteiner Zeitung als auch Harichs landwirtschaftlichen Anzeiger aus Ostdeutschland heraus und bewohnte eine exklusive Villa schräg gegenüber der Bischofsburg in Allenstein. Der Großvater mütterlicherseits, Alexander Wyneken (1848-1939), gründete die Königsberger Allgemeine Zeitung (KAZ), bei der er bis 1928 als Verleger und Chefredakteur fungierte. Sein Vater Walther Harich (1888-1931) war ein promovierter Literaturwissenschaftler. Er veröffentlichte Biographien über E. T. A. Hoffmann und Jean Paul und war als Schriftsteller und Publizist erfolgreich.

1926 zog Wolfgang Harich mit den Eltern nach Berlin, später nach Neuruppin in die Villenkolonie Wuthenow. Die Familie blieb Ostpreußen eng verbunden. Wolfgang Harich hat auch zu DDR-Zeiten keinen Hehl daraus gemacht, wie stark ihn der Verlust der deutschen Ostgebiete schmerzte. Zwischen 1927 und 1940 unternahm er jährlich mindestens eine mehrwöchige Reise zu den Großeltern nach Königsberg und Allenstein und in die Ostseebäder Rauschen und Cranz, wo sich Großvater Wyneken im Sommer aufhielt. Zum Bekanntenkreis der Eltern gehörten die Königsberger Schriftsteller Agnes Miegel und Alfred Brust; die Schwester seiner Mutter, Susanne Heß-Wyneken, berichtete für die KAZ über das Berliner Kulturleben. Sein Vater war mit dem Germanisten Josef Nadler (1884-1963) bekannt, der seit 1925 als Ordinarius an der Königsberger Universität amtierte und an einer mehrbändigen "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" arbeitete. Nadler riet Walther Harich zu einer Hochschullaufbahn. Beide überwarfen sich, als Harich im letzten Band des Nadler-Opus antisemitische Tendenzen festzustellen meinte.

Im Feuilleton seiner konservativen Königsberger Allgemeinen gewährte Alex-ander Wyneken - was typisch für die Weimarer Republik war - linksbürgerli-

chen Literaten und sogar Sympathisanten des Kommunismus eine Art Narrenfreiheit. Ein geistiger Leitstern der Familie war der Ostpreuße Johann Gottfried Herder, über den Wolfgang Harich 1951 seine Dissertation verfaßte. Man dachte russophil in dieser Familie, der Vater gehörte dem liberalen, die Großelterngeneration dem konservativen Lager an. Es gibt wenige Texte, die mit vergleichbarer Überzeugungskraft und ähnlich unterhaltsam die städtische Gesellschaft Ostpreußens skizzieren. Harichs fulminante Schilderungen drängen sich als Anknüpfungspunkt einer umfassenden Darstellung über die Familie Harich-Wyneken nachgerade auf. Sie wäre zugleich ein Paradigma einer ostpreußischen Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert.

Alles Kollektivistische, Zwanghafte war dem intelligenten Jungen zuwider; auch die Hitlerjugend übte auf ihn einen nur kurzzeitigen Reiz aus. Den Zweiten Weltkrieg überstand er, indem er in Krullscher Manier Lazarettaufenthalte hinauszögerte und Krank-

heiten simulierte. Wohlmeinende Militärärzte halfen ihm, Fronteinsätze zu umgehen, und als er sich nach einer Desertion in höchster Not befand, bewahrte ihn die Intervention eines Generals aus seiner Verwandtschaft vor dem Schlimmsten. Zeitweise war er Gasthörer an der Berliner Universität und knüpfte Kontakte zu intellektuellen und Künstlerkreisen. Außerdem gab er für ausländische Diplomaten Konversationsunterricht.

Nach 1945 avancierte er zum Überflieger. Die "Gruppe Ulbricht", die im Mai 1945 aus dem Moskauer Exil in Berlin eintraf, um die sukzessive kommunistische Machtübernahme vorzubereiten, machte ihn ausfindig. Wolfgang Leonhard schildert in seinem Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder", wie er ihn in der thailändischen Botschaft in Berlin-Dahlem antraf. Harich arbeitete als Journalist und Theaterkritiker in Berlin, sein Urteil wurde von den feinsinnigen russischen Kulturoffizieren geschätzt. Im Februar 1946 trat er in die KPD/SED ein, dabei spielte ein Motivbündel aus Schuldbewußtsein, Faszination für den Marxismus, Russophilie und Sympathie für die exilierten Schriftsteller, die jetzt in die Ostzone heimkehrten, eine Rolle.

Seine publizistische Feuertaufe inszenierte er effektvoll gegen den in die Schweiz emigrierten Nationalökonomen Wilhelm Röpke, der in dem Buch "Die deutsche Frage" (1945) die Politik Konrad Adenauers vorweggenommen hatte. Röpke hatte ein föderal verfaßtes Westdeutschland gefordert, das in eine westeuropäisch-atlantische Gemeinschaft mit klarer antisowjetischer Stoßrichtung eingebettet sein sollte. Besonders empörte Harich, daß Röpke "das sowjetisch besetzte Ostdeutschland" vorerst abschreiben wollte. Kein Wort von Harich läßt die Schlußfolgerung zu, daß er die Ostgebiete nicht ebenfalls zu "Ostdeutschland" rechnete. Der Artikel erschien am 23. August 1946 in der von den Sowjets herausgegebenen Täglichen Rundschau. Man hat in ihm bereits den ganzen, den fertigen Harich: Den brillanten Polemiker, den hochgebildeten Intellektuellen mit dem unwiderstehlichen Hang zu dogmatischer Rechthaberei, den national gesinnten Marxisten und sendungsbewußten Kommunisten.

Nach seiner Dissertation wurde er Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität, Lektor des Aufbau-Verlages, des wichtigsten Verlages der DDR, und Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Konflikte mit der SED-Führung waren programmiert, denn Harich war zu klug und gebildet, zu tief in der deutschen Kultur und der klassischen deutschen Philosophie verwurzelt, um den subalternen SED-Ideologen das letzte Urteil darüber zu erlauben. Seine Vorlesungen standen in hohem Ruf, auch sowjetische Botschaftsangehörige saßen im Hörsaal.

So viel Erfolg mußte einen flamboyanten Charakter wie Harich wohl zwangsläufig in den Größenwahn führen und ihm auch Neider schaffen. Im April 1952 wurde ihm auf einer inquisitorischen Sitzung des Philosophischen Instituts der Humboldt-Universität vorgeworfen, ein falsches Hegel-Bild zu verbreiten. Anwesend bei dem Tribunal war auch "Professor Kurt Hager", der bis zum Herbst 1989 als SED-Politbüromitglied und Chefideologe einer der mächtigsten Männer der DDR bleiben sollte. Harich konterte, daß die anwesenden Genossen "keine konkreten Kenntnisse der Geschichte der Philosophie besitzen". Derart in die Enge getrieben, räumten seine Gegner ein, "daß es sich gar nicht um die Einschätzung von Hegel handelt. (...) Es handelt sich um die Einstellung des Genossen Harich zur Partei. Es handelt sich um die Einstellung des Genossen Harich zur Sowjetwissenschaft. Es handelt sich um die Überheblichkeit des Genossen Harich und nicht um Hegel."

Einen Staat, der sich intellektuelle Debatten auf diesem Niveau leistete, hielt Harich realistischerweise für verloren. Gemeinsam mit dem Verlagsleiter Walter Janka, dem in Ungnade gefallenen Altkommunisten Paul Merker und weiteren politisierenden Intellektuellen hielt er die Zeit für gekommen, die sowjetische Machtpolitik und den Ost-West-Konflikt zu überlisten und mit der Wiedervereinigung Deutschlands zu beginnen. Er verfaßte ein nationalkommunistisches Strategiepapier, das unter dem Namen "Plattform" kursierte: In der DDR sollten innenpolitische Reformen eingeleitet, Ulbricht entmachtet und die SED entstalinisiert werden. Die SED, so hoffte Harich, würde dann für die SPD hoffähig werden und diese weit nach links ziehen. Eine Linkskoalition aus SPD und SED würde anschließend bei gesamtdeutschen Wahlen die Mehrheit erringen und die Wiedervereinigung eines neutralen Deutschland erreichen. Mit diesem Konzept ging der 33jährige im Ok-tober 1956 zum russischen Botschafter Puschkin und drängte ihn, die Sowjetunion möge Ulbricht fallenlassen und ihre Deutschlandpolitik ändern. Doch die Sowjetunion ließ, wo es um Machtfragen ging, nicht mit sich spaßen. Puschkin informierte umgehend Ulbricht, der zitierte Harich zu sich und gab ihm unverblümt zu verstehen, er werde seine Umtriebe nicht länger dulden. Der Hegel-Kenner aber fühlte sich mit der Vernunft im Bunde und unangreifbar. Am 26. November 1956 konferierte er in Hamburg mit dem Spiegel-Chef Rudolf Augstein. Der riet ihm, im Westen zu bleiben. Nach allem, was er von Harich erfuhr, hielt er dessen Konzept und persönliche Situation in der DDR für hoffnungslos. Trotzdem flog Harich drei Tage später nach Berlin zurück, wo es umgehend zur Katastrophe kam. Als besonders schmerzhaft und rufschädigend erwies sich in der Zeit des Prozesses und danach, daß sein Hauptmotiv, das Ringen um die deutsche Wiedervereinigung, nicht zur Sprache kommen durfte.

Nach der Haftentlassung blieb er ohne feste Anstellung. Er betrieb - anknüpfend an die Arbeit seines Vaters - Forschungen zu Jean Paul und arbeitete an der Ludwig-Feuerbach-Ausgabe des Akademie-Verlags der DDR mit. Die international bekannte Chansonsängerin Gisela May war für einige Jahre seine Lebensgefährtin. Seit der Gefängniszeit schwer herzkrank, wurde er 1979 invalidisiert. Unter Beibehaltung der DDR-Staatsbürgerschaft ging er bis 1981 in den Westen, wo er allerdings weder als Wissenschaftler noch als Politiker Fuß fassen konnte. Die Westlinke konnte mit ihm nichts an- fangen, unter anderem nahm sie ihm seine Affinität für den Philosophen Arnold Gehlen ("Moral und Hypermoral") übel. Es ist eine bizarre Pointe, daß Harich sich 1980 der Staatssicherheit als Westspion anbot, die Stasi aber kommentarlos ablehnte. 1987 brachte er sich spektakulär wieder ins Gespräch, als er in Sinn und Form, der anspruchsvollsten Kulturzeitschrift der DDR, eine dogmatische Attacke gegen die beginnende Nietzsche-Rezeption ritt. Der Abdruck erfolgte gegen den Willen der Redaktion - auf Weisung von Kurt Hager.

Es gehört zu Harichs Eigenwilligkeiten, daß er, je älter er wurde, für Ulbricht immer mehr Verständnis bekundete, während sein Haß gegen Adenauer, dem er nationalen Verrat vorwarf, konstant blieb. Wenn Harich in den neunziger Jahren auf öffentlichen Veranstaltungen sprach oder zum Interview gebeten wurde, lebten die alten deutschlandpolitischen Debatten aus den 50er Jahren wieder auf. Insbesondere verübelte er Adenauer, die "Stalin-Note" von 1952 mit dem Angebot zur Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands nicht ausgelotet und die DDR-Bevölkerung damit an den Diktator "verkauft" zu haben. Adenauers Furcht, die Neutralisierung Deutschlands würde Europa an die Sowjetunion ausliefern, zählte für ihn nicht. Das Argument, mit dem er, Harich, 1956 dem sowjetischen Botschafter seine Deutschland-Perspektive schmack-

haft zu machen versuchte, "Was wollen Sie denn mit dieser Braunkohlenecke hier, Sie können das Ruhrgebiet mitkriegen", bestätigte freilich Adenauers Analyse. Ein einziges Mal, in einem späten Interview, gestattete er sich einen Blick in den Abgrund seiner Selbstzweifel und bekannte, vielleicht hätte er doch lieber als Schüler von Nicolai Hartmann nach Göttingen gehen sollen. So ist Wolfgang Harich, eigentlich ein Frühvollendeter, auf tragische Weise ein Unvollendeter geblieben.

Ein Nationalkommunist aus dem Bürgertum

Ein auf tragische Weise Unvollendeter

Mehr als ein halbes Leben liegt dazwischen: Wolfgang Harich 1945 (ganz links) und Ende der 80er Jahre Sproß einer ostpreußischen Familie: Wolfgang Harich mit seiner Schwester und den Eltern auf einem Ausflug 1929