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© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Dezember 2003 |
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"Noch nicht am Ziel" Pariser Europaministerin Lenoir im PAZ-Interview: "Deutsch-Französische Union nein, mehr Kooperation ja" von Jürgen Liminski Die französische Europaministerin und Generalsekretärin der deutsch-französischen Kooperation, Noelle Lenoir, hat sich für eine Stärkung der militärischen Kapazitäten Europas ausgesprochen, sieht dies allerdings nicht im Gegensatz zur Nato. In einem Gespräch mit dieser Zeitung sagte sie wörtlich: "Europa kann weder aufgebaut noch weiterentwickelt werden ohne die Vereinigten Staaten von Amerika." Die Europäer teilten dieselben Werte und stünden "auch denselben Bedrohungen gegen-über". Deshalb seien die transatlantischen Beziehungen "wesentlicher Bestandteil für den Aufbau eines geeinten Europa". Das bedeute keineswegs, so die Ministerin, die sowohl dem Premierminister als auch dem Außenministerium am Pariser Quai d'Orsay zugeordnet ist, daß die Europäer immer mit der Politik Washingtons übereinstimmten, zumal sie in der internationalen Politik den Akzent auf die Multipolarität legten. In diesem Zusammenhang weist sie darauf hin, daß "das Europa der Verteidigung, das sich in einer Konsolidierungsphase befindet, sich nur dann realisieren läßt, wenn es mit der Nato kompatibel ist". Denn es "ist unmöglich, die Voraussetzungen zu verbessern, damit Europa seine eigenen Sicherheitsinteressen wahrnehmen und auch auf internationaler Ebene militärisch intervenieren kann, wenn sich das gleichzeitig auf die Kapazitäten zur Verteidigung mindernd auswirkt". Mit anderen Worten: es gehe "nicht darum, Europa zu stärken und die Nato zu schwächen. Europas Stärkung muß mit der Nato vereinbar, mehr noch: sie kann nur ergänzend sein." Frau Lenoir sieht im Krieg gegen den internationalen Terrorismus mit die größte Gefahr heute. Europa komme nicht umhin, sich "in diesem Kampf zu engagieren. Wir tun es auch, und ich würde sagen: das Ziel Europas ist es ganz allgemein, jeder Art von Gewalt einen Riegel vorzuschieben, allen Handlungen Einhalt zu gebieten, die unsere Kultur und unsere Lebensweise vergiften. Die Sicherheit Europas und seine Verteidigungskapazität haben in diesem Sinn eine außerordentlich hohe Dringlichkeit, und ich glaube, schon weil die Einschläge des Terrorismus immer näher kommen, daß wir in diesem Bereich schneller vorankommen müssen." Auch in Paris ist es kein Geheimnis, daß die Europäer zum Teil eine sehr kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Politik im Mittleren Osten und vor allem gegen-über Israel einnehmen, räumt sie ein und macht in diesem Zusammenhang eine Bemerkung, die aufhorchen läßt. Es sei "leider ein Wiedererstarken des Antisemitismus zu beobachten, ebenso eine bestimmte Form von Nationalismus". Die "Vergiftung unserer europäischen Kultur und Lebensweise" sieht sie durchaus in histo- rischen Bezügen. Sie zitiert Stefan Zweig, "der genau von jenem ausgrenzenden Nationalismus sprach, jener Plage, die die Blüte unserer Kultur vergifte. Ich habe den Eindruck, daß dieses Ungeheuer uns wieder auflauert, und in seinem Schatten auch der Antisemitismus. Ganz gleich, wie die internationale Politik verläuft, nichts rechtfertigt die Rückkehr des Antisemitismus, im Gegenteil, er ist immer und überall zu verurteilen." Präsident Chirac habe dies auch schon wiederholt getan und auch in Frankreich selbst davor gewarnt. Europa müsse hier zusammenstehen. Derzeit werde in Brüssel unter der Federführung von Kommissar Vitorino ein Text debattiert, um eine Richtlinie gegen Ausländerhaß, Rassismus und Antisemitismus zu formulieren. Mit Bedauern stellt die Europaministerin fest, daß einige Staaten, deren Namen sie öffentlich noch nicht nennen will, die Annahme des Textes abbremsen. Aber es sei "dringend, daß Europa hier ein Zeichen setzt und sich klar positioniert, indem es diesen Text endlich annimmt". Man werde auch auf dem EU-Gipfel darüber sprechen. Ausdrücklich nimmt sie die EU als solche trotz der Umfragen und Berichte in Schutz, die in jüngster Zeit auf antisemitische Tendenzen hinwiesen. Es gebe keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Bürokratisierung eines technokratischen Europa und der Entfremdung des einfachen Bürgers von den europäischen Institutionen dergestalt, daß diese Entfremdung der Renaissance des Nationalismus Vorschub leiste. Nationalismus und Rassismus seien "Reflexe, die in allen Gesellschaften vorkommen. Ich glaube nicht, daß man Europa dafür verantwortlich machen kann, schließlich haben wir auch in allen Ländern und Nationen größere Verwaltungsapparate und eine gewisse Bürokratie". Anders verhalte es sich dagegen mit den Wirkungen der Globalisierung. Sobald irgendwo auf dem Planeten ein Ereignis stattfinde, werde darüber berichtet, "das soll auch so sein, aber das geschieht immer öfter auf eine die Emotionen aufputschende, abqualifizierende und Instinkte weckende Weise". Hier habe "Europa einen Auftrag. Es muß diesen Effekten eine menschliche Antwort entgegensetzen, um dem Gefühl, alles gehe mit der Globalisierung den Bach herunter, die Stirn zu bieten". In diesem Sinn habe sie zunächst nur in Frankreich elf Maßnahmen für eine neue Zivilgesellschaft, eine neue Bürgerlichkeit in Europa vorgeschlagen. Damit wolle sie "ein Gefühl des europäischen Patriotismus" wecken. Europa könne nicht ohne den Bürger aufgebaut werden. "Europa wurde von den Bürgern und für seine Bürger gemacht, allerdings ohne ihre direkte Beteiligung und Mitbestimmung." Vor allem im Gespräch mit jungen Leuten stelle sie "fest, daß es ein diffuses Europa-Gefühl gibt, das auf seine Konkretisierung wartet. Wir sollten schon bei den Kleinkindern und spätestens in der Grundschule das Gefühl fördern, zu dieser europäischen Gemeinschaft zu gehören, zum Beispiel durch Sprachunterricht, aber auch im Geschichts- und Erdkundeunterricht, durch Streifzüge durch die Literatur, Kunst und Kultur der Nachbarn." Auch die Erweiterung Europas sei "eine großartige Gelegenheit". Gerade jetzt, da die Welt sich bedroht fühle, "müssen die jungen Menschen das Gefühl haben, daß sie zu dieser europäischen Gesellschaft gehören". Vom "deutsch-französischen Tandem" erwarte sie in diesem Zusammenhang einen Anschub für Europa. Die Ministerin warnt allerdings davor, Spekulationen um eine Fusion der beiden karolingischen Kernstaaten Deutschland und Frankreich ernst zu nehmen. Es gehe "nicht um eine Fusion im institutionellen Sinn, also aus zwei Staaten einen zu machen. Es geht einfach darum, den Geist der Zusammenarbeit zu beleben, um aus diesem Geist heraus auch den anderen Ländern und Menschen in Europa Vorschläge zu unterbreiten, die sie mittragen können." Es handele sich also "in keiner Weise um eine deutsch-französische Exklusivität, die die anderen ausschließt". Im Gegenteil, sie sei "davon überzeugt, daß diese beiden Länder die historische Aufgabe haben, Europa seiner Bestimmung zuzuführen, nämlich die Arme weit zu öffnen, damit die anderen in Europa, die neuen Beitrittsländer, aber auch die jetzigen 15 Länder sich alle in Europa wirklich wie zu Hause fühlen". Dafür brauche man auch keine Neuauflage des Elysée-Vertrags. Der Freundschaftsvertrag von 1963 sei noch nicht ausgeschöpft, "wir sollten im Rahmen des Elysée-Vertrags fortfahren. Er setzt Akzente im Bildungswesen, bei Kulturfragen, bei Sicherheit und Verteidigung." Das sei auch angesichts der "heutigen Herausforderungen, siehe den Terrorismus", durchaus möglich. Als Generalsekretäre der deutsch-französischen Kooperation haben Noelle Lenoir und ihr deutscher Kollege Hans Martin Bury die Aufgabe, die Verhandlungen zu koordinieren, die zur Tagesordnung des gemeinsamen deutsch-französischen Ministerrates führen. Das sei eine neue Formel der Kooperation. Der gemeinsame Ministerrat treffe operationelle Entscheidungen. Für den nächsten Rat im kommenden Frühjahr werde gerade ein präziser Arbeitsplan ausgearbeitet. Dabei gehe es um Initiativen für mehr Wachstum und zur besseren Wettbewerbsfähigkeit sowie um den Kampf gegen die Entindustrialisierung Europas. Man arbeite auch an Maßnahmen, um Europa im sozialen Bereich krisenfester zu machen. Dabei suche man auch die Unterstützung der EU. Ziel sei es, "das europäische Sozialmodell zu erhalten". Denn zu den großen Herausforderungen heute gehöre auch die Demographie. Sie bereite den Sozialmodellen und -systemen ziemliche Probleme und sei schon jetzt "eine Bremse für das Wachstum, eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit und ganz allgemein eine Bedrohung für den Wohlstand". Deshalb "brauchen wir einen neuen Sozialpakt". Es sei nicht mehr tragbar, daß "vor allem ... die Angestellten mit mittleren und höheren Einkommen, den Wohlstand aller" trügen. Die Reserven seien aufgebraucht. Das führe zu Konflikten innerhalb der Generationen, Konflikte, die die gesellschaftliche Solidarität in Frage stellten. Das sei gewiß eine der bedeutendsten, vielleicht sogar die wichtigste Baustelle für die Zukunft Europas. Madame Lenoir betont, daß diese Sozialreformen ohne strukturelle Hilfen für die Keimzelle der Gesellschaft, mithin also die demographische Quelle, die Familie, nicht möglich seien. Frankreich stehe dabei noch verhältnismäßig gut da. "Unsere Geburtenquote ist mit 1,9 eine der höchsten in Europa, sie reicht trotzdem nicht aus." Sie sei deswegen günstiger als in Deutschland, "weil wir seit Beginn des 20. Jahrhunderts aus historischen Gründen eine recht aktive Familienpolitik entwickelt haben mit Dienstleistungen für die Frauen, die es den Frauen mit Kindern ermöglichen oder wenigstens erleichtern, das Berufsleben und die Familienarbeit zu einer positiven Summe zu addieren". All diese Maßnahmen, nicht nur die flächendeckenden Betreuungseinrichtungen, sondern auch zahlreiche finanzielle Zuwendungen, hätten, so die Ministerin abschließend, "eine soziale Umwelt geschaffen, die den Schutz und das Ansehen der Frauen mit Kindern und der Familien weitgehend garantiert. Ich denke, dieses Modell, das im Detail noch weiterentwickelt werden muß, ist ein gutes Modell und hat für Europa einen gewissen Beispielcharakter". Noelle Lenoir Foto: AFP |