26.04.2024

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20.12.03 / 27.12.03 / Die ostpreußische Familie

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. u. 27. Dezember 2003


Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
Ruth Geede

Lewe Landslied und Freunde unserer immer größer werdenden Ostpreußischen Familie,

ja, so kann ich mit Stolz sagen, denn obgleich so viele alte treue Leserinnen und Leser nicht mehr unter uns weilen, wächst unsere Familie weiter - eben durch den Freundeskreis, den sie inzwischen gewonnen hat. Und daß immer mehr junge Menschen sich an uns wenden, die uns im Internet finden, freut mich besonders. Nur werden dadurch die Fragen schwieriger, weil oft das Grundwissen über Ostpreußen fehlt oder die überlieferten Angaben nicht stimmen - aber dazu sind wir ja da, um das richtigzustellen. Und da helfen alle Getreuen kräftig mit, und dafür möchte ich mich heute ganz, ganz herzlich bedanken. Denn wie oft wird behauptet: "Die Ostpreußische Familie ist einmalig", und das ist das schönste Geschenk, das wir bekommen können. Und wenn ich einen Rückblick über das nunmehr zur Neige gehende Jahr halte, dann muß ich sagen: Es stimmt!

Von einem Wiederfinden nach 59 (!) Jahren kann ich auch heute berichten. Zu Beginn der Geschichte stand - wie so oft - ein Irrtum. Ingrid U. Stolte las in unserer Zeitung den Namen "Erna Richter" und glaubte, ihre lang gesuchte Patentante, die beste Freundin ihrer Mutter Ursula Christ, geb. Bastigkeit, gefunden zu haben. Sie war es leider nicht, aber dieser Irrtum gab den Anlaß zu einer gezielten Suche nach der richtigen Erna Richter geb. Strauß aus Bartenstein. Über unsere Familie - und die spurte sofort! Lassen wir Frau Stolte berichten:

"Am 17. Oktober erhielt ich von Herrn Mischke aus Telgte Kopien von zwei Karteikarten mit Eintragungen meiner Mutter und tatsächlich von der gesuchten Familie Richter aus dem Jahre 1986. Einen Tag später bekam ich von einer Bartensteinerin aus Belgien den in Ihrer Zeitung veröffentlichten Artikel über meine Suchaktion. Was kann in 17 Jahren alles geschehen sein? Stimmte die Adresse in Gifhorn noch? Ich fand sie im Telefonbuch und - "Tante Erna" meldete sich!" Die Überraschung war natürlich groß und die Freude nicht minder, denn Frau Stolte besitzt noch Fotos und sogar einen Film, der anläßlich des zweiten Geburtstages des Sohnes Wolf-Dieter von Frau Richter gemacht wurde und der Flucht, Gefangenschaft und Lagerleben überstanden hatte! Das gab natürlich ein Wiedersehen in Gifhorn, an dem auch der Sohn von Frau Richter teilnahm. "Wir haben wunderschöne Stunden miteinander verbracht", schreibt Frau Stolte. "Meine anfängliche Aufregung war bald vorbei, ich fühlte mich dort sehr wohl, und als wir uns verabschiedeten, kam es uns nicht vor, als lägen 59 Jahre dazwischen! Leider konnte ich meiner Mutter diese Wiedersehensfreude nicht bereiten, denn sie ist vor einem Jahr verstorben. Und dabei haben wir bis 1952 im Landkreis Hannover gewohnt und nichts voneinander gewußt, obwohl die Familie Richter schon damals im Kreis Gifhorn wohnte."

Ja, warum so spät? Frau Stolte meint, daß erst im reiferen Alter das Interesse an der Herkunft erwacht. Als Kind sei für sie Ostpreußen weit weg und unerreichbar gewesen. "Nur, viele Jahre später war meine Mutter nicht immer bereit, auf meine Fragen zu antworten. Heute weiß ich, daß sie ihr Schmerz und leidvolle Erinnerungen bereiteten." Das sind schon Gründe, weshalb viele Fragen erst spät - oft zu spät! - gestellt werden. Auch heute noch können oder wollen manche Menschen nicht über jene Ereignisse sprechen, die ihr ganzes Leben veränderten. Es ist manchmal wie eine Blockade, die nicht zu durchbrechen ist.

Das ist wahrscheinlich auch bei der Herkunftsfrage der Geschwister Schneider aus Gumbinnen der Fall, die mich sehr beschäftigt. Es war ein "Hilferuf für Wolfskinder", den mir Gertrud Bischof übersandte und den ich in vor einigen Wochen in unserer "Ostpreußischen Familie" veröffentlichte. Zur Erinnerung: Die - vermutlichen - Geschwister Frieda, Erna (oder Irene) und Andreas Schneider suchen nach ihren Wurzeln, die in Gumbinnen liegen müssen, wo die Familie im Erdgeschoß eines zweistöckigen Hauses gewohnt haben soll. Angeblich ist der Vater Friedrich (?) Schneider 1943 bei Leningrad gefallen, die Mutter im Alter von 34 Jahren bereits 1942 verstorben. Als sogenannte "Wolfskinder" sind die Kinder dann umhergeirrt, sie leben heute noch weit verstreut in Litauen. Frau Bischof hat sich seit fast zwei Jahren bemüht, Licht in das Dunkel der Herkunft dieser drei Menschen zu bringen, leider vergeblich. Trotz Vollmachterklärung seitens der zweiten Tochter hat sie weder beim Standesamt in Berlin noch beim Ev. Zentralarchiv etwas erreichen können. Daß die wenigen Angaben lückenhaft, ja sogar widersprüchlich sind, erschwert die Suche, die auch nach der Veröffentlichung in unserer Kolumne so gut wie keine neuen Ergebnisse erbrachte. Ich nutzte die Gelegenheit anläßlich eines Treffens der Gumbinner in Hamburg, diese Angelegenheit den Anwesenden vorzutragen, aber auch da kam ich nicht weiter. Lediglich eine geäußerte Vermutung könnte von Interesse sein: Da der Name Schneider mit Fragezeichen angegeben ist, könnte er vielleicht auch "Schneidereit" lauten. Dieser Name ist ja durchaus im nördlichen Ostpreußen geläufig. Die nächste Gelegenheit zum weiteren Recherchieren nutzte ich, als ich bei einer Lesung in Hannover unsere so rührige Brigitte Kasten traf, die sich immer wieder um Aufklärung von Schicksalen unserer Landsleute, vor allen denen der "Wolfskinder", bemüht. Wir besprachen diese Frage eingehend, und Frau Kasten meinte, daß sie diese Suchfrage aufgrund ihrer Verbindung zu Frau Bischof auch aktenkundig hätte. Sie teilte mir dann umgehend folgendes mit: Eine Tochter der 1936 geborenen Erna (Irene) Schneider lebt in Deutschland, sie ist in Pforzheim verheiratet. Deren Schwiegervater hat auch schon nach der Herkunft der Mutter geforscht, ebenfalls vergeblich. Die größte Schwierigkeit soll in dem Schweigen der ältesten Schwester Frieda liegen. Da diese 1932 geboren sein soll, wäre sie bei Kriegsende 13 Jahre alt gewesen, hätte also durchaus noch Erinnerungen, die weiterhelfen könnten. Die Nichte in Pforzheim konnte ihre Tante bisher nicht bewegen, etwas aus der Vergangenheit zu erzählen, sie schweigt und verweigert jede Auskunft auch den eigenen Verwandten gegenüber. Dies ist also wieder ein Fall von totaler Blockade wahrscheinlich aufgrund schwerwiegender Erlebnisse, die sie nicht verarbeiten konnte. "Wer könnte Frieda zum Sprechen bringen?" fragt Frau Kasten. Mit Sicherheit könnten so die hauptsächlichsten Fragen wenigstens so weit gelöst werden, daß eine konkretere Suche möglich ist. Es bleibt nur zu hoffen, daß diese Frau, die heute noch in Litauen lebt, endlich ihr Schweigen bricht. Dies wäre wohl unser aller Wunsch, der sie aber leider nicht erreichen wird.

Es gibt noch immer so viele Menschen, die ihre im dunkeln liegende Vergangenheit quält, mehr oder minder bewußt. Manche haben resi-gniert, weil alles Suchen vergeblich war, andere haben die Ungewißheit ihrer Herkunft als unabwendbares Schicksal hingenommen oder bauen sich selber eine Blockade. Aber die hat Scharten, und oft genügt ein geringer Anlaß, manchmal sogar nur ein Wort, um sie zu öffnen - und wenn es auch nur für einen Spalt ist. So geschehen jetzt auf einer Veranstaltung in Kappeln, von der mir Peter Drahl erzählte. Er ist der Verfasser und Herausgeber der wundervollen Biographie über die ostpreußische Malerin und Grafikerin Gertrud Lerbs, die seine Patentante ist und wohl noch mehr als das, weil sie selber kinderlos blieb. Ihre Porträts von dem kleinen Peter und seiner Schwester Dorle sprechen von sehr viel Liebe, und die macht sich auch in umgekehrter Weise bemerkbar, denn Peters Drahls Buch gibt mit seinen persönlichen Erinnerungen, den vielen sorgsam bewahrten Fotos, Briefen und privaten Zeichnungen der Künstlerin ein Lebensbild von solch einer Intensität, wie sie kaum in vergleichbaren Biographien zu finden ist. Das zeigt sich auch bei seinen Vorträgen und Lesungen, auf denen er aber auch gerne eigene Prosa liest, wie jetzt in Kappeln. (Nur eine kleine Information für die Leserinnen und Leser: Kappeln liegt an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste an der Schlei, jetzt auch bekannt als Drehort für die so beliebte TV-Serie "Der Landarzt".)

Auf dieser vorweihnachtlichen Veranstaltung las Peter Drahl auch aus meinen Büchern, und das veranlaßte eine etwa 70jährige Zuhörerin, ihm zu sagen, wie sie sich gefreut habe, etwas von dem Land zu hören, aus dem sie stamme. Sie hätte auch gerne das Buch über Gertrud Lerbs gekauft, aber das könne sie sich im Augenblick nicht leisten. Daraufhin schenkte ihr Peter Drahl den großen Band. Der Veranstalter sagte, er habe noch nie einen Menschen erlebt, der sich so gefreut habe! Die Frau bat den Autor um eine Widmung, nannte auch ihren Namen und fügte hinzu: "Wie ich wirklich heiße, habe ich nie erfahren." Auf seine Frage nach ihren Eltern erklärte sie, daß sie die nie kennengelernt habe. Das einzige, was sie über ihre Herkunft wisse, sei der Name des Großvaters: Otto Böttcher. Die Großeltern sollen mit einem Treck aus dem Kreis Königsberg geflohen sein. Auf dem Frischen Haff wurden sie von Tieffliegern beschossen, wobei die Großeltern getötet wurden. Das Kind fand man in ein Federbett gewickelt unter einem Treckwagen. Die Frau hat nie ihren richtigen Namen erhalten, nie einen Anhaltspunkt über ihre Herkunft gefunden. Sie erzählt, daß man sie einmal in Hypnose versetzt habe, um etwas über die Fluchtereignisse zu erfahren. Sie habe nur gestammelt: "Oma macht Heia, Opa macht Heia, ich auch mach' Heia!" Die toten Großeltern müssen für das Kind Schlafende gewesen sein. Peter Drahl, durch dieses Erlebnis aufgerüttelt, hat das Königsberger Adreßbuch durchgesehen und einen Otto Böttcher, Kutscher, wohnhaft Gebauhrstraße 44, gefunden. Da die Frau aber von einem Treck aus dem Kreis Königsberg sprach, ist anzunehmen, daß es sich wohl um Flüchtlinge aus dem südlichen Samland handelt. Vielleicht erinnern sich ältere Leserinnen und Leser an einen Otto Böttcher, der mit Frau und Enkelkind über das Haff floh. Es könnte sein, daß andere Flüchtlinge aus dem Treck den Tieffliegerangriff überlebt haben. Wenn wir hier etwas Licht in das Dunkel bringen könnten, wäre das für die Frau aus Kappeln mehr als ein Weihnachtswunder.

Ja, und da kommen wir jetzt zu unserm "Christkind", wie ich den kleinen Mantas nenne, weil wir in jedem Jahr zum Fest von diesem wirklichen "Wunder" berichten. Denn anders ist das nicht zu nennen, allein von Zufällen zu sprechen würde der Sache nicht gerecht. Für unsere neuen Leserinnen und Leser kurz die Vorgeschichte erzählt: Vor sechs Jahren wurde Dr. Detlef Arntzen - in Königsberg geboren, jetzt in Hamburg lebend - auf einer Heimatreise von einer älteren Ostpreußin aus Ruß angesprochen, ob er nicht etwas altes Zeug hätte. Ihr Urenkel sei sehr krank, "dem Jungchen läuft immer alles aus dem Bauch!". Tatsächlich fehlten dem damals Dreijährigen einige Organe, darunter die Blase. Niemand konnte dem Kind helfen. Ein qualvolles Leben, ein früher Tod - das schien das Schicksal des kleinen Mantas zu sein. Hier halfen keine Tücher, keine Lappen! Dr. Arntzen leitete eine Hilfsaktion ein, deren Ausmaß er damals noch nicht erahnen konnte. Mit Hilfe der Medien - vor allem des NDR 3 -, aber auch durch die Hilfsbereitschaft unserer Landsleute kamen die finanziellen Mittel zusammen, die 1997 eine erste Untersuchung des Kindes in der Universitätsklinik Kiel mit anschließender Operation ermöglichten. Die Ärzte gaben der Hoffnung Ausdruck, daß Mantas einmal ein relativ normales Leben führen könnte, allerdings seien noch mehrere Untersuchungen und eine zweite Operation nach der Pubertät erforderlich, da dem Jungen außer dem Bauchnabel auch das äußere Geschlechtsorgan fehlte. In den nächsten Jahren entwickelte sich der Gesundheitszustand des Jungen zufriedenstellend, er konnte eingeschult werden und wurde ein guter und fleißiger Schüler. In jährlichem Turnus kam Mantas mit seiner Mutter nach Deutschland zu Kontrolluntersuchungen. Die erheblichen Kosten waren durch das Spendenaufkommen gedeckt. Zu Beginn dieses Jahres konnte die zweite Operation ins Auge gefaßt werden, obgleich der Junge noch nicht in der Pubertät war. Die Privatdozentin Frau Dr. Fisch wollte im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg die schwierige Operation vornehmen. Ende Juni kam Mantas zum fünften Mal nach Deutschland. Bevor er operiert wurde, konnte er in Hamburg reich beschenkt seinen neunten Geburtstag feiern. Am 2. Juli wurde Mantas von Frau Dr. Fisch operiert. Die vier Stunden dauernde Operation war gefahrlos, erforderte jedoch großes operatives Können und Geschick. Der postoperative Verlauf war völlig komplikationslos. Mantas wird später einmal als richtiger Mann leben können.

Erstaunlich schnell erholte sich das Kind von dem schweren Eingriff und konnte noch herrliche Sommertage in Norddeutschland mit seinen Gastgebern verleben. Die Meldungen, die jetzt aus Litauen - Mantas wohnt nicht wie seine deutsche Urgroßmutter im Memelgebiet - kommen, sind beglückend für alle, die mitgeholfen haben, daß der Junge nicht dahinsiechte, sondern dank der großartigen ärztlichen Hilfe ein normales Leben führen kann. Das aufgeweckte und begabte Kind hat von seiner Schule zwei Urkunden für besondere Leistungen erhalten und wird auf das Gymnasium überwechseln. Im nächsten Sommer wird Mantas zur Nachuntersuchung nach Hamburg kommen. Auch diese wohl letzte Aktion ist finanziell gesichert. "Mehr ist nicht zu berichten. Diese Weihnachtsbotschaft könnte schöner nicht sein!" meint Dr. Arntzen. Dem brauchen wir nichts mehr hinzuzufügen.

Ja, wir können dankbar sein, dankbar dafür, daß wir helfen konnten und können. Kürzlich hatte eine Königsbergerin, die heute in Australien lebt, den Choral "Wir treten zum Beten ..." gesucht. Wir konnten ihr dieses niederländische Dankgebet, entstanden nach dem Sieg im Jahre 1597, zusenden. Das Erstaunliche aber war die Reaktion in unserer Leserschaft. Es kamen Briefe und Anrufe: "Bitte senden Sie mir doch auch das Lied zu!" Und oft wurden Erinnerungen beigefügt, von denen ich eine hier weitergeben will. Einer, der den Krieg als junger Soldat erlebt hat, hat sie aufgeschrieben: "Im Sommer 1941 lagen wir mit unserer Einheit einige Tage in Nowgorod in Ruhe. Wir mit etwa zehn Mann im Hause einer älteren Dame. Diese sprach sehr gut deutsch, war in früheren Jahren auf großen Gütern in Lettland als Hausdame tätig gewesen. In einem leeren Nachbarhaus stand ein Klavier, dort lud sie einige Kameraden ein, die daran Interesse hatten zu singen. Drei Lieder spielte sie: Jesus, geh voran - Großer Gott, wir loben dich - Wir treten zum Beten! Die Melodie kann ich heute noch, aber der Text des Liedes war später in fast jeder Einheit anders. Nun las ich, daß Sie den Text haben, und ich hätte endlich den richtigen gern. Er erinnert mich an die alte, gute Frau, deren Sohn in Rußland verschwunden war. Es gelang uns, ihr manches Kochgeschirr mit warmem Essen von der Küche mitzubringen, unsere Ruhetage waren dann zu Ende. Wir mußten nordwärts, da war dann die Lage anders, aber die Lieder haben wir weiter gesungen."

Interessant ist, daß ich verschiedene Versionen des Liedes zugesandt bekam, die auf gänzlich unterschiedlichen Übersetzungen aus dem Niederländischen beruhen.

Eure Ruth Geede