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03.01.04 / Das wundersame Land Phantásien

© Preußische Allgemeine Zeitung / 03. Januar 2004

Das wundersame Land Phantásien
von Siegfried Matthus

Der Musikunterricht war zum wiederholten Male ausgefallen. Bastian schlen- derte lustlos auf dem Nachhau- seweg durch die Straßen. Vorbei an der aus finanziellen Gründen geschlossenen Musikschule, an der er den ersten Unterricht im Cellospielen bekommen, und an der ebenfalls geschlossenen Bibliothek, aus der er immer spannende Bücher geliehen hatte.

Alle Bände aus der Büchersammlung seiner Eltern hatte er schon gelesen. Aber Großmutter hatte ihm ein neues Buch geschenkt: "Die unendliche Geschichte, 2. Teil". Mehrfach hatte er die dramatische Geschichte von der Rettung des Landes Phantásien durch seinen Namensvetter Bastian gelesen. Was mag es nun für neue Katastrophen im Land der Kindlichen Kaiserin geben, fragte er sich.

Bastian war nach wenigen gelesenen Seiten schnell überzeugt, daß dort alles bestens ist. Das Land blüht, und seine Bewohner sind hoch zufrieden. Die Kindliche Kaiserin regiert ihr Land mit Hilfe der Musik. Ja, Sie haben richtig gehört. In den obersten Rat des Landes gelangen nur Personen, die eine gründliche musikalische Ausbildung haben. Der Kanzler und die Minister müssen mehrere Instrumente spielen können, um die Stimmführerpositionen im parlamentarischen Sinfonieorchester zu besetzen und musikalisch vorbildlich auszufüllen. Die Harfe wird von der Kindlichen Kaiserin wunderbar gespielt. Weiterhin müssen alle singen können; denn die Parlamentssitzungen werden im gesungenen Dialog geführt. Auch die Opposition muß sich diesem Brauch fügen. Dabei darf sie nicht schreien und krächzen, sondern muß ihre Argumente in einem gepflegten Parlando oder Belcanto vorbringen.

Auch die Umgangssprache in dem weiten Land Phantásien ist eine gesungene. Das fällt solchen Bewohnern wie dem Irrlicht, dem Nachtalb und vor allem Uyalala und Atreju nicht schwer. Etwas schwieriger hat es schon der Felsenbeißer. Aber auch er bemüht sich um kantige Kantilenen in seiner Konversation und spielt im Sinfonieorchester des Haulewaldes die große Trommel. Die vier Windriesen schnaufen harmonisch durch die Lüfte. Die uralte Morla beeindruckt mit ihrem öligen Kontraalt und der Fliegende Drache Fuchur glänzt mit seiner geschmeidigen Baritonstimme.

Prof. Engywuck hat ein Konservatorium gegründet, in dem er, assistiert von seiner Frau Urgl, die verschiedenen Affekte der Musik, wie Freude, Trauer, Leid, Humor, u. a. untersucht. Seine Forschungsergebnisse berichtet er der Kindlichen Kaiserin, die mit ihrer himmlischen Silberstimme das Land gütig und friedvoll regiert.

Das Erstaunliche nun ist, daß sich die Musik als eine vortreffliche Mittlerin auch für die schwierigsten Landesfragen, bis hin zu den Finanzen, erweist. Alle Konflikte werden durch das hohe Ethos der Musik zu moralischen Fragen und führen zu sinnvollen Lösungen. Es gibt keine Kriege mehr und emotionale Konfrontationen finden nur auf den großen instrumentalen und vokalen Turnieren des Landes statt.

Nur betrüben die glücklichen Einwohner Phantásiens die schrecklichen Nachrichten aus der Erdenwelt. Dort sind die Bewohner von einer schleichenden Krankheit betroffen, vergleichbar mit den Weißen Wolken des Nichts, die in früheren Zeiten Phantásien zu zerstören drohten. Die Erdenbewohner verkrüppeln allmählich geistig, moralisch und auch körperlich. Sie nehmen zusehends eine mausgraue Farbe an. Aus ihren grauen Gesichtern blicken leblose Augen, die keine Farben mehr wahrnehmen können, weder den blauen Himmel noch die grünen Bäume. Sie bekommen nur ein wenig Glanz, wenn sie blitzende Münzen sehen.

Am furchtbarsten verunstaltet sind ihre Ohren. Sie können damit keine natürlichen Geräusche der Umwelt aufnehmen, wie das Wehen des Windes, das Rauschen des Meeres, den Gesang der Vögel oder ein liebes Wort eines Mitmenschen. Nur das Klirren von Geldstücken erreicht ihre Sinne. Die Ohrläppchen am unteren Ende der Ohrmuschel haben sich zu einer Tasche umgebildet, ähnlich den Bauchbeuteln der australischen Känguruhs. Dort deponieren sie Münzen, die durch entsprechende Bewegungen die bekannten Geldgeräusche hervorbringen. Das ist - ich zögere, das Wort zu gebrauchen - "Musik" in ihren Ohren und ihr einziger Lebensinhalt. Damit die Münzen in ihren Ohrentaschen immer in Bewegung sind, zittern und zockeln sie wie durchgeknallte Medienstars durch die Gegend. Sie leben in dem Wahn, ihre normalsten und oftmals sehr dürftigen Taten als Superleistungen zu bezeichnen. Sie werden deshalb treffend Super-Puper-Menschen genannt. Besonders schlimm herrscht die Seuche der Super-Puper-Krankheit - in Phantásien ist man bestens darüber informiert - in einer großen Stadt inmitten Europas. Dort ist man besonders eifrig dabei, den musikhungrigen Bewohnern ihre existentielle geistige und seelische Nahrung zu nehmen, indem man Sinfonieorchester auflöst, Opernhäuser schließt, Musikschulen streicht und Unterrichts- stunden im Fach Musik ausfallen läßt.

Diese Nachrichten haben Entsetzen unter den Einwohnern Phantásiens hervorgerufen. Prof. Engywuck hat sofort Forschungen über das Verhalten der Super-Puper-Menschen angestellt und nach Lösungen gesucht, sie zu heilen. Das Ergebnis seiner mühevollen Arbeit ist höchst einfach: Durch das Hören von Musik können diese Verbildungen rückgängig gemacht werden.

Der oberste Rat des Landes Phantásiens unter der Leitung der Kindlichen Kaiserin hat - natürlich singend! - beraten, wie man den Erdenbewohnern helfen kann.

Atreju vom Gräsernen Meer und der Fliegende Glücksdrache Fuchur sind beauftragt, nach dem Erdenreich zu reisen, um dort einen Jungen zu finden, dem sie die Botschaft der Kindlichen Kaiserin mit den Lösungsvorschlägen Prof. Engywucks überbringen. Dieser muß dann mit seinen Freunden die Erdenbewohner vor der drohenden Gefahr, ein Super-Puper-Mensch zu werden, warnen und retten.

Sehr schnell wird sich eine große Zahl von Mädchen und Jungen finden, die diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen und durchführen werden. Sie müssen ihre Eltern, ihre Lehrer und ihre Freunde warnen. Sie müssen in die Parlamente und Ausschüsse gehen, in denen über Kürzungen auf kulturellem Gebiet entschieden wird, ja - bis in den Bundestag hinein; denn dort sitzen die Menschen, die am unmittelbarsten von der furchtbaren Krankheit bedroht sind.

Das Heimtückische an dieser Krankheit ist, daß die von der Seuche Befallenen die oben beschriebenen Symptome nicht bemerken. Ihr lieben jungen Freunde, schaut den Verdächtigen tief in die Augen und prüft, ob sie außer blitzenden Münzen noch den blauen Himmel sehen, Bücher lesen und Bilder wahrnehmen können. Beobachtet mit großer Sorgfalt ihre Ohren, ob sich dort nicht schon die schrecklichen Beutel bilden und sie außer tönenden Börsenberichten noch das Wehen des Windes, den Gesang der Vögel und die Schönheiten der Musik hören können. Wenn ihr nur die ersten Ansätze bemerkt, dann müßt ihr sofort zur Tat schreiten. Klärt sie eindringlich über ihren gefährlichen Zustand auf und schickt sie umgehend in Sinfoniekonzerte, in Opernaufführungen, in Kammerkonzerte. Wenn sie diese Veranstaltungen - das sind die Reha-Kliniken für ihren Zustand - regelmäßig besuchen, dann können sie gerettet und geheilt werden.

Ihr lieben jungen Freunde, ei-ne verantwortungsvolle Aufgabe kommt auf euch zu. Es liegt in eurer Hand, die gefährdeten Erdenbewohner vor dem seelischen Sterben zu retten. Demonstriert für die Gesundung der betroffenen Menschen mit großer Eindringlichkeit. Setzt euch dafür ein, daß auch bei uns die vorbildlichen Zustände aus dem Land der Kindlichen Kaiserin Wirklichkeit werden. Bastian wird's tun. Er und wir alle haben den dringenden Wunsch, auch auf unserer Erde wie in dem wundersamen Land Phantásien zu leben.

Die unendliche Geschichte: Märchenhafte Gestalten wie Atreju und der Drache Fuchur in dem gleichnamigen Film nach dem Buch von Michael Ende beleben die Phantasie Foto: Cinetext

 

Siegfried Matthus wird am 13. April 1934 in Mallenuppen, Kreis Darkehmen (Angerapp), geboren. Seit 1991 ist er "Künstlerischer Leiter der Kammeroper Schloß Rheinsberg". In seinem Œuvre finden sich Sinfonien, Kammermusik und Opern. 1996 wird er mit dem Preis des Internationalen Theaterinstituts Berlin ausgezeichnet, 1997 erhält Matthus den Kulturpreis für Musik der Landsmannschaft Ostpreußen, ein Jahr später den Preis des Verbandes der deutschen Kritiker und 2000 das Bundesverdienstkreuz. Zu seinen neuen Arbeiten gehört die Oper "Die unendliche Geschichte", die am 10. April im Nationaltheater Weimar uraufgeführt wird. Weitere Werke des Ostpreußen sind zu hören im Konzerthaus Berlin (16., 17. und 18. Januar): "Concerto für two", im Theater der Landeshauptstadt Magdeburg (18. und 19. März): "Der Wald" - Konzert für Pauken und Orchester, Konzerthaus Berlin (18. April): "Manhattan Concerto", Konzertsaal Gera (28. und 29. April): sowie Großes Haus Altenburg (30. April): "Leise zieht durch mein Gemüt" - zwölf Lieder für Sopran und Orchester von Mendelssohn Bartholdy/Matthus, "Das Land Phantásien" nach Michael Ende für Sprecher und Orchester (Dirigent S. Matthus), Konzerthaus Berlin (8. Mai): "Die Sehnsucht nach der verlorenen Melodie" - Konzert für Klavier und Orchester, Theater Hagen (8. Mai): "Die unendliche Geschichte", Deutsches Nationaltheater Weimar (16. und 17. Mai): "Responso" - Konzert für Orchester, Dresden Kulturpalast (22. und 23. Mai): "Der Wald". os