25.04.2024

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10.01.04 / Tochter der Zeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Januar 2004

Tochter der Zeit
Gedanken über die Wahrheit

"Wahrheit ist die Tochter der Zeit." Diesen Spruch entdeckte ich als oberen Teil einer in leuchtenden Farben gemalten Sonnenuhr an einer Dorfkirche. Lange hat er mich beschäftigt. Ich weiß nicht, ob es sich hier um das Zitat des Ausspruches eines weisen Menschen oder um eine alte Volksweisheit handelt. Vielleicht findet sich dieser Satz auch in einem der heiligen Bücher, in denen uns wichtige Lebenserfahrungen vergangener Zeiten über- liefert werden.

Was will er uns sagen? Welche Botschaft hält er für uns bereit?

Es geht um die Wahrheit in unserm Leben. Das bedeutet doch wohl, daß sie unser ganzes Sein durchdringen muß, damit wir sie recht in uns erfahren, eins mit ihr sind, glücklich, wahrhaftig zu leben.

Wahrheit bedeutet aber auch, daß kein Falsch in uns sei, wir redlich in uns, mit uns und anderen sind. Ja, daß wir uns so geben, wie wir sind, uns nicht verstellen, die Menschen um uns in unsere Herzen blicken lassen, ihnen nichts vorgaukeln, was nicht lebendig aus uns herausströmt.

Aber wieso soll Wahrheit nicht schlicht und bündig Wahrheit und nichts weiter sein? Der Spruch lehrt uns, daß Wahrheit die Tochter der Zeit sei. Hier gehen drei Begriffe, deren jeder einzeln für sich einen klaren Sinn ergibt, eine merkwürdige Verbin- dung ein, macht sie voneinander unabhängig: Tochter der Zeit. Übergeordnet ist der Begriff "Zeit". Er läßt Einmaliges, Vergängliches und Dauerndes ahnen. Das alles vermag die Zeit zu sein. "Tochter der Zeit" muß dann wohl heißen, ihr zugeordnet, mit ihr verwandtschaftlich eng verbunden, auf sie gerichtet und eingestellt sein.

Wenn aber Wahrheit Tochter der Zeit ist, dann ist sie kein auf die Ewigkeit ausgerichteter, in ihr sich bergender unveränderlicher Begriff mehr.

Wahrheit wird so wandelbar, wie sich die Vorstellungen der Menschen im Laufe der Zeit ändern. Was heute als gut gilt und laut von den Gegenwärtigen gepriesen wird, kann morgen schon der harten Kritik der Späteren unterzogen und wieder verworfen, ja, als böse und schlecht verdammt werden.

Wahrheit ist also abhängig von der Sicht der Menschen, die nach ihr streben. Diese aber ist wandelbar, denn unser Leben wird bestimmt von vielfältigen Bedingungen, die nicht von uns allein abhängen. Vielleicht schwingt in diesem Ausspruch auch die Erkenntnis mit, daß die Wertung des Geschehens in seiner Zeit immer im Zusammenhang mit den äußeren Einflüssen gesehen werden muß, die wir mit Macht und Ohnmacht, Freiheit oder Unterdrückung umschreiben können und zu denen alles gehört, was unser Leben ausmacht.

So sollten wir auch den Satz "Wahrheit ist die Tochter der Zeit" verstehen und danach trachten, daß wir die Wahrheit aus unserm Leben rein und unverstellt, ohne Rücksicht auf Lob oder Tadel heraus leuchten lassen. Dann wird sie eine köstliche Kraft in uns aufrufen und reichen Segen bringen. Hans Bahrs