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10.01.04 / In der Nacht durch die Front

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Januar 2004

In der Nacht durch die Front
von Kurt Zwikla

Als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden die Grenzdörfer in Masuren von russischen Truppen überfallen. Die Zivilbevölkerung hatte darunter sehr zu leiden. Unser Dorf Misken lag neun Kilometer von der damaligen russisch-polnischen Grenze entfernt und war starken Plünderungen ausgesetzt. Einige Familien flüchteten in die Festungsstadt Lötzen, kehrten aber bald wieder zurück.

Polnische Zivilisten hatten russische Uniformen angezogen und sich beim Plündern beteiligt. Sie nahmen alles mit, was sie brauchen konnten: Haushaltsgeräte, Federbetten, aber vor allem Pferde. So beschlossen alle Misker Männer, sich dagegen zu wehren und diese Plünderer nicht mehr ins Dorf zu lassen. Sie besorgten sich Gewehre und Jagdflinten.

Eines Tages beobachteten einige Misker, wie zwei fremde Fuhrwerke in Richtung Dorf kamen. Die Männer dachten, es wären Plünderer und legten sich auf die Lauer. Als die Fuhrwerke näher kamen, schossen einige mit ihren Flinten, obwohl vereinbart war, nicht gezielt auf die Plünderer zu schießen, sondern sie nur abzuschrecken. Es wurde einer getroffen, und er fiel vom Wagen. Man konnte beobachten, wie der Mann wieder auf den Wagen geladen wurde. Die Fuhrwerke drehten und fuhren im Galopp zurück.

Die Misker waren froh, die Plünderer verjagt zu haben. Doch es waren keine Polen, sondern russische Soldaten, die Heu für ihre Pferde holen wollten. Als die Bewohner am nächsten Morgen erwachten, war das ganze Dorf von russischem Militär umstellt. Alle Häuser wurden nach Männern durchsucht, und die sie fanden, wurden weit nach Rußland verschleppt.

Aus Misken waren es: Andreas Jakobowski, Julius Fabrizius, Wilhelm Bahlo mit Sohn Richard und mein Vater August Zwikla. Die anderen Männer hatten sich gut versteckt.

Die Gefangenen wurden unter Bewachung bis nach Mazedonien gebracht, und das alles zu Fuß und zum Teil bei grimmiger Kälte. Am Ziel angekommen, wurden sie in ein großes Zuchthaus für schwere Fälle gesteckt. Die Zellen waren sehr klein und wurden mit mehreren Männern geteilt. Das Essen war sehr bescheiden. Es gab nur eine dünne Wassersuppe mit ein paar Kohlblättern. Doch die dort lebende Bevölkerung durfte zweimal in der Woche das Gefängnis besuchen und den Gefangenen etwas zu essen und warme Bekleidung bringen. Besonders die Kaufleute, russische Juden, unterstützten die Deutschen sehr, und dadurch haben sie die schwere Zeit überstanden. Auch der starke Winter machte ihnen zu schaffen, 40 bis 50 Grad Kälte waren keine Seltenheit.

Inzwischen wurden die Männer verhört und eine Anklageschrift gegen sie vorbereitet. Sie lautete: Anschlag auf russisches Militär und Töten eines russischen Soldaten. Als sie das hörten, wußten sie, daß sie mit dem Schlimmsten rechnen mußten. Der Prozeß war kurz und verlief nur in russischer Sprache. Sie wurden alle zum Tode verurteilt und gefragt, ob sie das Urteil annehmen. Aber sie sagten "nein", weil sie kaum etwas verstanden hatten. Sie verlangten einen deutschsprachigen Verteidiger, und nach kurzer Beratung der Richter wurde ihnen ein Verteidiger zugesagt.

Der Prozeß wurde vertagt, und alle waren erst einmal erleichtert. Nach etwa 14 Tagen kam ein russischer Offizier in ihre Zelle. Er sprach gut deutsch und fragte sie, warum sie auf die russischen Soldaten geschossen hätten. Sie erzählten ihm, daß sie nicht vorgehabt hätten, auf die Soldaten zu schießen, sie hatten nur die polnischen Plünderer, die in russischer Uniform über die Grenze kamen, Frauen vergewaltigten und plünderten, verjagen wollen. Der Offizier war entsetzt über das Geschehen an der ostpreußischen Grenze und sagte, er könne es gut verstehen, daß die Männer ihre Familie und ihr Hab und Gut verteidigen mußten und sagte zum Richter, Soldaten sollten gegen Soldaten kämpfen und die Bevölkerung in Ruhe lassen.

So hat der Prozeß eine positive Wende genommen, und der Richter gab dem Verteidiger recht. Nun hofften die Angeklagten, daß die Todesstrafe erlassen würde. Die Richter zogen sich zur Beratung zurück. Dann wurde folgendes Urteil verkündet: Alle Angeklagten wurden freigesprochen und sollten aus dem Gefängnis entlassen werden. Sie konnten sich in dem Bezirk frei bewegen, wurden aber bei den Bauern zur Arbeit eingesetzt.

Also war, solange der Krieg dauerte, an eine Heimkehr nicht zu denken. Sie kamen dann in ein Dorf und wurden den Bauern zugeteilt. Sie hatten es gut getroffen und machten sich an die Arbeit, um zu zeigen, wie gründlich in Deutschland die Felder bestellt wurden. Die Russen ließen ihre Gefangenen ruhig gewähren. Schon bald merkten sie, daß die Erträge um das Vielfache gestiegen waren. Obwohl es den Männern einigermaßen gut ging, machten sie sich Sorgen um ihre Familien zu Hause, denn es gab keine Gelegenheit zu schreiben, so wußten ihre Angehörigen auch nicht, wo sie geblieben waren und ob sie noch lebten.

Mit der Oktober-Revolution 1917 begann eine sehr unruhige Zeit. Die Männer überlegten, ob es nicht ratsam wäre, an Flucht zu denken. Es war ein weiter Weg, trotzdem wurden Pläne geschmiedet. Einige Bauern haben ihnen schließlich geholfen. Mein Vater arbeitete bei einer verarmten Gräfin, auch sie unterstützte den Plan. Ihr Mann war Offizier und konnte ihnen russische Uniformen besorgen. Als Zivilisten hätten sie keine Chance, meinte er. Mein Vater bekam eine Sergeanten-Uniform und einige Dokumente, auf denen Armeestempel zu sehen waren, das war sehr wichtig in Rußland. Die Gräfin hatte eine gute Landkarte für sie besorgt, auch mußten sie Russisch lernen.

Der Plan der Gräfin war, daß mein Vater als Sergeant die Soldaten an die Front bringen sollte. Somit waren sie auch berechtigt, per Bahn mit Truppentransporten zu fahren. Es war ein gewagter Plan. Nun konnte die Flucht aus Mazedonien bis nach Ostpreußen beginnen.

Eines Morgens brachte die Gräfin die Männer zum Bahnhof, wo der Zug nach Moskau abfuhr. Sie mußten einige Male umsteigen und hatten Glück, denn auf einem Bahnhof stand ein Militärzug. Es waren Viehwaggons ohne Licht, auf dem Boden lag Stroh, wo die Soldaten schlafen konnten. Das war das Richtige für sie. Sie verkrochen sich in eine Ecke, sprachen kein Wort und stellten sich schlafend. Ab und zu gab es etwas zu essen.

Als sie in Moskau ankamen, herrschte reger Betrieb auf den Bahnsteigen, überwiegend Militär, das zur Front unterwegs war. Sie konnten sich frei bewegen, wurden auch von niemandem kontrolliert. Jetzt galt es, den richtigen Zug zu finden, der zur Front fuhr. Sie stellten sich etwas abseits und studierten die Skizze, die sie von der Gräfin bekommen hatten, wie sie am besten weiterkämen. Da die Frontzüge von einem anderen Bahnhof abfuhren, gingen sie zur Straßenbahn und fuhren mit dieser dorthin. Als sie bezahlen wollten, winkte die Schaffnerin ab. Die Zivilisten, meist Frauen, waren sehr freundlich, sie machten ihnen Platz und boten ihnen zu essen an, denn sie wußten wohl, daß die Soldaten zur Front mußten.

Als sie am Bahnhof ankamen, sahen sie, daß es ein Militärbahnhof war. Die einen kamen von der Front und waren guten Mutes, die anderen fuhren zur Front und waren weniger erfreut. Nach langem Suchen fanden sie einen Zug, der in Richtung Front fuhr. Wieder suchten sie sich eine stille Ecke aus, und so begann die letzte Wegstrecke in die erhoffte Freiheit.

Als sie an der Endstation vor der Front ausstiegen, suchten sie sich im Gelände nahe eines Dorfes in einem Granattrichter ein Versteck, um die Gegend auszukundschaften. Sie mußten eine Lücke in der russischen Front ausfindig machen, um dadurch an die deutsche Front zu kommen. Auf beiden Seiten war es sehr ruhig, und nachts konnten sie durch die abgeschossene Leuchtspurmunition den Verlauf der deutschen und russischen Linie beobachten und sehen, wo die Lücken waren. Nach drei Tagen beschlossen sie, in der nächsten Nacht ihr Glück zu versuchen. Sie wußten, wie groß ihr Risiko war. Wenn sie hier als Deutsche erkannt würden, dann würden sie ihre Heimat und ihre Familien niemals wiedersehen.

Die letzte Nacht vor dem Aufbruch wollten sie noch etwas schlafen, aber die Anspannung war zu groß, sie waren mit ihren Gedanken bei ihrem gewagten Unternehmen.

Der Himmel am nächsten Tag war bewölkt, aber es war trocken, ganz gut für ihr Vorhaben. Sie machten sich auf den so lange ersehnten Weg in die Freiheit und steuerten in gebückter Haltung auf die größere Lücke in der russischen Front zu. Das Herz raste, und die Füße waren schwer wie Blei. Zum Glück sahen sie niemanden und hörten auch keine russischen Laute. Die saßen wohl alle in ihren notdürftigen Stellungen. Auf Posten stießen sie nicht, es war eine ruhige Nacht. So hatten sie die russische Front gut hinter sich gebracht.

Jetzt war die Frage, was wohl die deutschen Soldaten mit ihnen machen würden, wenn plötzlich "russische" Soldaten vor ihrer Stellung auftauchten? Als sie noch etwa 80 Meter gegangen waren, rief plötzlich ein deutscher Posten: "Halt, wer da, Parole?" Mein Vater rief zurück: "Nicht schießen, wir sind deutsche Kriegsgefangene." Der Posten wußte wohl nicht, was er antworten sollte und fragte bei seinem Vorgesetzten nach, was man da tun könnte. Nach einer Weile kam die erlösende Antwort: "Kommt mit erhobenen Händen langsam zu uns herüber." Das war der schönste Augenblick seit der ganzen Gefangenschaft.

In der deutschen Stellung angekommen, wurden die Männer freundlich aufgenommen. Nach einiger Zeit hieß es: "Der Hauptmann erwartet euch zum Verhör." Zuerst hielt man sie für russische Spione: "Wie kommt ihr an die russischen Uniformen? Wer hat euch Karten und Skizzen besorgt?" Das Verhör dauerte sehr lange, auch nach ihren Familien wurden sie befragt. Als der Hauptmann merkte, daß sie auf jede Frage eine glaubhafte Antwort geben konnten, versprach er ihnen, daß sie so bald wie möglich mit einem Truppentransport nach Ostpreußen reisen dürften. Sie mußten aber zur weiteren Überprüfung zuerst zu ihrem Wehrbezirkskommando nach Lötzen. Da würde entschieden, was mit ihnen geschieht.

Nach einigen Tagen kamen sie in Lötzen an und wurden nochmals verhört. Man wollte ganz sicher sein. Also bestellte man die Frauen aus Misken schriftlich dorthin. Die Frauen staunten, warum sie nach Lötzen gerufen wurden, den Grund hatte man ihnen nicht mitgeteilt. Von ihren Männern hatten sie die ganzen Jahre kein Lebenszeichen erhalten. Sie wußten nicht, ob sie noch lebten. Man war auf das Schlimmste gefaßt. Das ganze Dorf war in Aufruhr.

Als die Frauen nach zwei Tagen in Lötzen ankamen, wurden sie sehr merkwürdig behandelt. Sie mußten in einem leeren Zimmer Platz nehmen und wußten nicht, was das zu bedeuten hatte. Dann ging die Tür auf, und drei bärtige Männer und ein Offizier kamen herein. Die Frauen erkannten gleich ihre Männer und fielen ihnen um den Hals. Somit war auch der Offizier überzeugt, daß alles seine Richtigkeit hatte.

Verwüstungen im Ersten Weltkrieg: Russische Unterstände bei der Belagerung Lötzens Foto: Archiv