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17.01.04 / Polen: EU ist keine Zauberformel / Historische Gründe für Selbstbewußtsein gegenüber Brüssel

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Januar 2004

Polen: EU ist keine Zauberformel
Historische Gründe für Selbstbewußtsein gegenüber Brüssel
von Thorsten Hinz

Der Zorn auf Polen wegen seiner intransigenten Haltung auf dem Brüssler EU-Gipfel im Dezember ist groß. Man könnte aber genausogut danach fragen, warum Deutschland und Frankreich sich auf den Wahnsinn der Nizza-Beschlüsse, die bei der Gelegenheit revidiert werden sollten, eingelassen haben.

Zunächst hat Polen in Brüssel nur getan, was alle EU-Mitglieder tun: Es hat seinen Besitzstand verteidigt. Der Nizza-Kompromiß, der Polen im Brüsseler Ministerrat ein überproportionales Stimmengewicht einräumt, ist ein Besitzstand. Über ihn hofft man an weitere Pfründe - Agrarsubventionen etwa - zu gelangen.

Doch mit der Losung "Nizza oder der Tod!" hat Polen den Konflikt in einer Weise dramatisiert, die ihm noch teuer zu stehen kommen kann. Sogar ein Mann wie der einflußreiche Journalist Adam Michnik, der sonst nationalistischen Stimmungen abgeneigt ist, hat in den Chor eingestimmt. Man findet in diesem Verhalten unschwer Spuren von politischer Romantik, die in Polen Tradition hat, aber auch eines historischen Langzeitgedächtnisses.

Es wäre reizvoll, am polnischen Beispiel Nietzsches Gedanken "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" durchzudeklinieren. Das Wissen um die Geschichte schärft das Bewußtsein. Jedoch im Übermaß genossen, lähmt sie die praktischen Fähigkeiten. Das melancholische "Mourir pour Danzig?" (Sterben für Danzig?), durch das Warschau sich 1939 von Frankreich im Stich gelassen fühlte, wurde ins Aggressiv-Kämpferische gekehrt.

Man sieht sich als selbstverständlicher Teil Europas und weiß, daß es zur EU-Mitgliedschaft keine Alternative gibt. In der Zeit des Kommunismus war "Europa" das Synonym für Freiheit. Viele Polen sind daher sogar gekränkt, daß seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bis zur EU-Vollmitgliedschaft 14 Jahre vergehen mußten. Andererseits rührt es an das Prestigegefühl eines Volkes, das seine Unabhängigkeit und Demokratie erst kürzlich und unter Opfern errungen hat, wenn es diese an eine zweifelhaft legitimierte Eurokratie zum Teil wieder abtreten soll. - Ist die Lethargie, mit der die bundesdeutschen Wahlbürger es hinnehmen, daß ihr gewähltes Parlament sukzessive zum Vollzugsorgan von Brüsseler Kommissionen und Behörden herabsinkt, nicht viel bedenklicher?

Europa erscheint in Polen als nützlich, es ist aber, anders als in Deutschland, keine metaphysische Zauberformel und kein automatisches Glücksversprechen mehr. Man kann Europa auch kritisch sehen.

Der Wiener Kongreß von 1815, der als Höhepunkt europäischer Staatskunst gilt, schrieb die polnische Teilung fest. Als Solidarnosc sich 1980 gegen das kommunistische Regime auflehnte, mokierte sich die westeuropäische Linke über das Bündnis von Gewerkschaft und Katholischer Kirche. Bei Ausrufungdes Kriegsrechts Ende 1981 verhielt sich die damalige EG - allen voran Deutschland - passiv.

So entstand der Eindruck, daß ihr dieUnterdrücker näherstanden als die Unterdrückten. Eine Erfahrung, die nachwirkt.

Für den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bedeutete das kühle Realpolitik im nationalen Interesse. Das russische Imperium erschien als Faktum, mit dem man noch sehr lange würde rechnen müssen. Es war ausgeschlossen, daß Breschnew ein Ausscheren Polens aus seinem Reich oder auch nur eine Demokratisierung des Landes zulassen würde.

Die polnische Erhebung störte Schmidts Entspannungskonzept und die Politik der kleinen Schritte im Verhältnis zur DDR. Die Niederschlagung der Revolte war aus dieser Perspektive unvermeidbar. Man konnte nur froh sein, daß sie nicht durch eine russische Intervention erfolgte.

Bei anderen war die Passivität ideologisch begründet. Es war die Zeit der deutschen Friedensbewegung, in deren Augen die USA gegenüber der Sowjetunion die größere Gefahr darstellten. Adam Michnik appellierte 1984 an Willy Brandt, nach Polen zu kommen, um nicht nur die Hände der Generäle und Parteisekretäre zu schütteln, sondern auch um Blumen am Denkmal für die 1981 getöteten Bergarbeiter niederzulegen. Brandt kam 1985 nach Polen, doch weder legte er Blumen nieder, noch traf er sich mit Lech Walesa.

Wie tief die Enttäuschung über dieses Versagen der deutschen Linken noch immer sitzt, zeigte ein Streitgespräch zwischen Michnik und Jürgen Habermas vor wenigen Jahren. Wenn ausgerechnet Joschka Fischer, der aktuelle Frontmann der deutschen Linken, heute erklärt, er sei "persönlich enttäuscht", schließlich habe er sich für Polens Mitgliedschaft stark gemacht, dann ist das eine Mischung aus Selbstüberschätzung und historischer Legasthenie.

Zu bedenken sind die Sonderbeziehungen Polens zur USA, die sich im Irak-Krieg bestätigten und die die Polen auch durch den EU-Beitritt nicht beeinträchtigt sehen möchten. Die polnische Staatsgründung 1918 ging wesentlich auf Wilson zurück, polnische Auswanderer bilden in den USA eine starke Lobby, und der damalige US-Präsident Reagan stellte sich unzweideutig auf die Seite von Solidarnosc.

Die USA geben den Polen durch protokollarische Gesten das - selbstredend illusorische - Gefühl der Gleichwertigkeit, während Jaques Chirac, Arm in Arm mit Gerhard Schröder, vor dem Irak-Krieg die Polen, Tschechen und Ungarn wegen ihrer proamerikanischen Solidaritätsadresse abkanzelte, sie hätten eine gute Möglicheit verpaßt, den Mund zu halten!

Die Polen haben die potentielle russische Gefahr im Hinterkopf, der die pazifizierte Europäische Union im Ernstfall kaum etwas entgegensetzen könnte. Schon angesichts russischer Übergriffe in Tschetschenien duckt die EU sich ängstlich weg und verletzt damit ihre eigenen Grundsätze. Allein das Bündnis mit den USA verheißt Sicherheit.

Zuletzt wurde von polnischen Nationalisten die "deutsche Gefahr" beschworen, wofür deutsche Provinzpolitiker wie Markus Meckel sogar noch Steilvorlagen lieferten. Dominierend aber sind innenpolitische Probleme. In Warschau amtiert eine Minderheitsregierung, die bei einem Nachgeben in Brüssel wohl gestürzt wäre.

Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, und es grassiert die Furcht, daß die Anpassung an die EU-Normen zu neuen Härten führt. Nicht nur in Polen wird in solchen Situationen die nationale Pauke geschlagen. Der Bevölkerung wurde der Beitritt damit schmackhaft gemacht, daß Polen sich in Brüssel auf derselben Augenhöhe wie Deutschland befinde. So wurde eine nationalistische Spirale in Gang gesetzt, der sich auch besonnene Kräfte nicht mehr entziehen konnten.

Supranationale Tradition: "Die Union von Lublin" (1569) nach Jan Matejko