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24.01.04 / Eisfahrt auf dem Haff

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Januar 2004

Eisfahrt auf dem Haff
von Wilhelm Müller 

Im Fischerhaus in Nidden sitzen sie zusammen, der Sportsegler und der alte Fischer. Lange schon ist es dunkel, und nur das Licht der Kerze spielt über das Runengesicht des Greises. Er erzählt aus seinem Leben, vom Haff und vom Fischfang. Wenig spricht sonst der Fischer davon, denn er weiß, wie selten ein Fremder ihn zu verstehen vermag. Kommt aber mal einer, der die Arbeit, die Hoffnung und die Sorge der Menschen zwischen See und Haff kennt, dann öffnet er gern sein Herz. "Ja, Totensonntag war's. Dreißig Jahre mochte ich alt sein", erzählte der Alte. "Ich hatte damals den Kahn Nr. 23, und der mit mir fischte den Kahn Nr. 16. Ein trauriger, trüber Totensonntag war es, und es fiel ein leichter Regen. Wir kreuzten bei leichtem Südost nach dem Festland hinüber. So um sieben Uhr abends gehe ich auf Steuerbordbug, um am Wind nach Tawe hinunterzulaufen. 

Mein Geselle schläft ein. Ich brauche ihn ja auch nicht. Als er aufwacht, sagt er mir: Ich habe eben geträumt, wir haben beide bis zum Hals im Wasser gestanden. Das gibt nichts Gutes ab, denke ich mir. Bei Tawe - eine Stunde vor Mitternacht - werfen wir das Kurrnetz (Anm.: Die beiden Kähne Nr. 16 und 23 befinden sich auf Schleppfahrt und ziehen das Netz gemeinsam hinter sich her). Der Wind geht auf Ostnordost. Wir treiben nach der Nehrung in Richtung Kunzen. Es regnet noch, aber oben friert das Segel schon. Der Wind legt immer noch zu; noch in der Nacht haben wir Stärke acht. Wir treiben, bis es dämmert. Es ist jetzt schwerer Sturm, gut Windstärke zehn. Wir müssen die Netze einholen. Das ist eine schwere Arbeit, und die Dünung läuft so durcheinander, daß sie uns die Kähne beinahe vollschlägt. Bevor wir die Segel setzen, müssen wir erst ausschöpfen. Einer nimmt den Grappen, womit wir die Segel bespritzen, und der andere die Schaufel. Das Wasser muß erst raus. Dann nehmen wir das gereffte Großsegel hoch und das viereckige Kleinsegel vorn. Es wird furchtbar kalt; ganz scharfer Frost kommt. Immerzu fegt das Wasser herüber, und die Kähne fangen an zu vereisen. Wenn man bloß ein bißchen was Warmes zum Essen gehabt hätte. Der Kahn bedeckt sich immer mehr mit Eis und liegt immer tiefer. So um neun Uhr morgens sind wir bei Pillkoppen. Der andere Kahn bleibt da. Beim Landen schlägt er gleich ganz voll. 

Pillkoppener Kähne liegen schon vollgeschlagen auf Grund. Nur die Masten und Steven stecken heraus. Schweres Schneegestöber kommt, und wir können jetzt nichts sehen. Um elf Uhr kommen wir mit dem Schwert auf Grund und müssen ankern und Segel wegnehmen. Am Haken südlich Nidden waren wir, aber das wußten wir nicht. Auf den anderen Bug gehen und weitersegeln geht nicht mehr. Auf der Windseite ist der ganze Kahn zu sehr vereist. Wir schlagen uns gegenseitig das Eis vom Südwester herunter. Wenn man nur ein bißchen was Warmes zu trinken gehabt hätte. Bevor wir den Anker werfen, müssen wir von ihm das Eis abschlagen, dann vom Mast auch, dann Salz in die Hand und das Tauwerk abreiben, um das Segel herunterzubekommen. Wir liegen schon sehr tief im Wasser, so schwer ist der Kahn geworden. Nun kamen drei große Wellen, und da ist der Kahn voll. Nur der Steven steckt heraus. Ich sage dem Gesellen: Geh hinaus! Er geht raus, eine Welle nimmt ihn mit, aber er behält Grund. 1,20 Meter mochte es tief sein. Ich binde in dem vollgeschlagenen Kahn noch die Segel fest und gehe dann auch über Bord, finde aber keinen Grund. Der Kahn muß ins Tiefe geschwojt sein. 

Ich lasse mich bis an den Mund herunter, die Dünung will mich wegreißen. Ein Hochkommen gibt es nicht mehr. Ich halte mich an der Schoot fest und lasse mich ganz tief herunter. Die Wellen gehen mir über den Kopf, aber ich fasse keinen Grund. Das Wasser ist eisig, ich werde matt und muß weg. Geschrien hab ich, keine Antwort. Zu Gott geschrien hab ich. Ich kann nicht mehr. Mit der nächsten Dünung muß ich vom Kahn weg. Da kommt sie. Ich lasse los und stoße mich vom Kahn ab. Die Welle nimmt mich mit und ich berühre mit dem Fuß den Grund. Die nächste Welle duckt mich unter. Ich kann ja gar nichts machen. Alles ist so zusammen- gefroren. Dann habe ich wieder Grund, bis an die Schulter geht's mir noch. Ich kann nicht mehr richtig atmen, aber ich komme doch an Land. Da liegt der Geselle wie tot auf dem Gesicht. Ich muß mich erst hinsetzen und ausruhen. Dann rüttle ich den Gesellen, bis er aufwacht, und dann gehen wir gegen den Schneesturm nach Nidden. Arm in Arm gehen wir, legen uns wieder hin und gehen weiter. Das Ölzeug und die Kleider, alles friert steif. 

Es dauert so lange, das Gehen, aber dann sind wir in Nidden. (Anm.: Vom Ort der Strandung, dem Grabscher Haken, bis nach Nidden dürften es mehr als drei Kilometer gewesen sein.) Ich stehe vor dem Haus an der Tür, aber ich kann den Arm nicht heben. Mit dem Kopf haue ich gegen die Tür. Die Mutter hört es, die Nachbarn kommen. Heißes Wasser gießen sie über mich, um Schürze und Kleider herunterzubekommen, dann ins Bett. Acht Wochen war ich krank. Einen Arzt gab es damals nicht in Nidden. Vom Gesicht und von den Händen ging mir die Haut herunter, aber ich wurde wieder gesund. Ja, das war der Tag nach Totensonntag", schloß der Alte.