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24.01.04 / Das Miteinander lernen / Ein achtungsvolles Wort führt aus der Anonymität heraus

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Januar 2004

Das Miteinander lernen
Ein achtungsvolles Wort führt aus der Anonymität heraus
von Hans Bahrs 

Es wird heute so viel von der Kontaktlosigkeit der Menschen unserer Zeit gesprochen, die Folgen der Anonymität in vielen großen Wohnhäusern werden beklagt. Gewiß redet nicht jeder, der zu dieser Frage Stellung nimmt, gedankenlos daher. Manchmal aber hat man doch den Eindruck, daß aus der zweifellos bestehenden Tatsache des gestörten Verhältnisses der Menschen unter einem Dach zueinander und zu ihrer Umwelt eine Sensation gemacht wird, doch nur selten werden die Ursachen ergründet, wird für Abhilfe gesorgt. Ich meine, eine der Wurzeln des Übels liegt darin, daß wir Menschen heute so wenig voneinander wissen. Viele von uns mühen sich auch nicht ehrlich darum, die Anonymität in der Nachbarschaft aufzubrechen, Namen auszutauschen. Schon ein kleiner Plausch kann hilfreich sein. Wissen wir, ob der Nachbar Not leidet? Auch in unserer denkbaren Hilflosigkeit wäre vielleicht der Nachbar der Nächste, der unseren Hilferuf hört. Es gäbe so viele Möglichkeiten echter Begegnungen. Da ich über dieses Thema sinniere, werden in meiner Erinnerung wieder Bilder der eigenen Kindheit wach. Unsere Mutter hatte uns ihren Leitspruch eingeprägt: "Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist!" 

Bei der Wahl unserer Freunde redete sie uns nie dazwischen. Aber sie hielt darauf, daß wir sie zu uns ins Haus holten. So bunt die Gesellschaft auch war, die da in unser Heim geweht kam und mit dem vorliebnahm, was sie in unserer Enge und Ärmlichkeit vorfand, an herzlicher Gastfreundschaft hat es nie gemangelt. Das heimliche Vorhaben der Mutter, die Gefährten ihrer einzelnen Kinder im weiteren Sinne zu einem allgemeinen Freundeskreis der Familien zusammenzuführen, mußte zwar scheitern, weil solche Unternehmung durch die Verschiedenartigkeit der Charaktere und Interessen gar nicht zum Ziele führen konnte. Wir waren durch Alter, Berufsschicksal und unsere persönlichen Interessen so deutlich unterschieden, daß es hier schon des Taktes und der Umsicht der Mutter bedurfte, um uns Kinder im Hause selbst immer wieder zusammenzuführen. Aber eine achtungsvolle Begegnung und ein freundliches Wort füreinander hat sie durch ihr eigenes Beispiel im-merhin auch in dem größeren Kreis erreicht. 

Unbewußt wirkten wir alle an dem Gelingen mit. Jeder Mensch trägt seine Kinderstube, die ihm sein Elternhaus vermittelt hat, als Visitenkarte ins Leben hinaus. Bei den Besuchen in unserer Wohnung wurden mannigfache Visitenkarten abgegeben. Es wirkten die religiösen, ethischen und politischen Überzeugungen der 20er und 30er Jahre in einen Raum hinein, der in der Einfalt der mütterlichen Erziehung gar nicht auf eine solche Vielfalt der Themen vorbereitet worden war. Vor allem die politischen und sozialen Auffassungen waren es, die uns zu Auseinandersetzungen aufriefen und deren Herausforderungen wir alle, ein jeder auf seine Weise, nun zu begegnen suchten. Ohne daß wir uns das besonders eingestanden oder auch nur darüber nachgedacht hätten, brachten wir einander Achtung entgegen. Wir lernten es, dem, was unserem Gesprächspartner wichtig erschien, zuzuhören, es zu bedenken und dann erst unsere Meinung zu äußern. Daraus erwuchs manches Gespräch, das uns alle kritischer, reifer, erfahrener machte. Wir schliffen uns aneinander ab. Da jeder von uns in seinem Bereich nach Leistung strebte und es auch zu etwas brachte, ergab es sich ganz von selbst, daß keiner auf den anderen herabsah. Die Arroganz der Studierten blieb hier ebenso fremd wie als Antwort darauf die übersteigerte Selbstdarstellung der Praktiker. Wir achteten einander in unserem So- und Anderssein. 

Aus der Verschiedenartigkeit erwuchs die Vielfalt. Sie machte die Lebendigkeit unseres Kreises aus. Ich schätze mich glücklich, daß mir aus dieser Zeit nach all den Wirrnissen und Schicksalsschlägen der folgenden Jahrzehnte immer noch Menschen geblieben sind, denen ich in der gleichen Unbefangenheit begegnen kann, wie damals. Weder die Unterschiedlichkeit unserer Berufe, Bildungsgrade oder des materiellen Wohlstandes haben daran etwas zu ändern vermocht. So meine ich, daß sich aus diesem bescheidenen Bespiel vielleicht doch eine Nutzanwendung ins Allgemeingültige hineinziehen läßt. Vielleicht die, daß wir unseren Kindern vielfältige Möglichkeiten der Begegnung erschließen, damit sie sich selbst im Verhältnis zu ihren Mitmenschen und deren Erlebniswelt erfahren und die Achtung voreinander lernen. 

Leben in der Großstadt: Kaum Möglichkeiten echter Begegnung Foto: Archiv