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14.02.04 / EU 2004 - Zeit für den Abschied von einer Illusion?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 14. Februar 2004

EU 2004 - Zeit für den Abschied von einer Illusion?
von Klaus Hornung

Das Jahr 2003 endete in der Europapolitik mit dem Paukenschlag des Scheiterns, nämlich der Vertagung des Europäischen Verfassungsvertrags.

Aber nur in Paris und Berlin herrscht Jammern und Klagen. Die anderen sehen das gelassener: England, Spanien, Italien, Dänemark, Schweden sowie die baltischen Staaten, Polen und Tschechien. Hier steht man der deutsch-französischen Initiative nicht ohne Mißtrauen gegenüber. Soll sie die Vorherrschaft der Großen auf Kosten der Kleinen sichern, die Gemeinschaft sogar auf einen antiamerikanischen Kurs bringen? Sollen überhaupt die bisherigen Prinzipien der europäischen Einigung grundsätzlich geändert werden, von einem Europa der Vaterländer, Nationen und Völker zu einem strikten Bundesstaat mit zentralistischen Institutionen und Verfahren, und das unter deutsch-französischem Kommando?

Zur Jahreswende hat nun die CSU als erste Partei deutlichen Widerspruch gegen diese EU-Entwicklung erhoben und darauf hingewiesen, daß der Verfassungsvertrag rund 30 Sachbereiche der Bundesrepublik entzogen und der Brüsseler Kommission zugewiesen hätte, darunter die Einwanderungspolitik, was vitalen deutschen Interessen widersprechen hatte müssen. Selbst in der Kommunalordnung sollte Brüssel Kompetenz erhalten und zum Beispiel über die Zahl der Kindergartenplätze in der Union einheitlich entscheiden. Schließlich war es im Verfassungskonvent in letzter Minute sogar noch gelungen, die einst in Maastricht beschlossene Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) erheblich einzuschränken.

In der Tat: Der Entwurf des Europäischen Verfassungskonvents öffnete ganze Büchsen der Pandora, so daß nun auch in der CSU von einem "häßlichen Zentralstaat" und der "Exekutiv-Diktatur" der EU-Beamten in einem "zentralistischen Superstaat" gesprochen wird. Was wäre in diesem Europa mit einer hochbürokratisierten Zentrale in Brüssel überhaupt noch demokratisch? Wäre es in dem weiten Raum zwischen Portugal und Finnland, Irland, Großbritannien und dem Donaubecken überhaupt noch regierbar? Und: Wäre das überhaupt noch jenes "Europa", das wir meinen und lieben, jener Raum produktiver Vielfalt, oder nur noch ein "Großraum", in dem es um Bevölkerungszahlen und Produktionsziffern geht?

Keine Frage: Dieser Kontinent muß sich nach allen grausamen Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts anders darstellen als etwa 1933 oder noch 1991. Die damals überbordenden Nationalismen sind offensichtlich weitgehend gezähmt und dürfen nicht mehr zu fortdauernden innereuropäischen Konflikten führen. Gesucht wird der "Goldene Schnitt" zwischen möglicher Vielfalt und nötiger Einheit, jedoch kein Unitarismus mit der Brechstange.

Warum also nicht ein Europa im Sinne jenes "Staatenverbundes" neuer und besonderer Art, wie es das Bundesverfassungsgericht schon 1993 klug und abgewogen formulierte? Nur so bliebe seine aus der Geschichte bekannte Schöpferkraft erhalten und würde es nicht einer bürokratisch übermütigen, sterilen Gleichmacherei anheimfallen. Diese Tendenzen waren schon in den Verhandlungen des sogenannten Verfassungskonvents deutlich. Es fanden dort, wie man von Teilnehmern erfahren kann, keinerlei Abstimmungen statt. Konsens um jeden Preis war die Parole, auch um den Preis, daß man die wirklichen und prinzipiellen Probleme gewandt umschiffte. Die europäische Herrschaftsklasse aus Politik, Wirt- schaft und Medien wollte unter sich bleiben und arbeitete mit den klassischen Basar-Methoden des "Gib und nimm".

Jeder, der auf Grundfragen hingewiesen hätte, wäre zum Spielverderber geworden. Ein halblauter Kammerton war gefragt, und der Konventsvorsitzende Giscard d'Estaing war insofern der geeignetste Repräsentant dieser Versammlung.

Eine kraftvolle Mobilisierung der Europäer vermochte von ihr nicht auszugehen. Es wäre daher in der Tat gut, wenn der Entwurf als obsolet betrachtet und wenn sein Scheitern Anstoß zu einem "konzeptionellen Neubeginn" würde in Richtung auf ein "Europa der Bürger und Parlamente" anstelle eines Europa "der Beamten und Konzerne", wie man aus München hören kann.

Jedenfalls sollten die Vorhänge weggezogen werden, die den Konvent von der kritischen Öffentlichkeit abschirmten. Ein Europa der Bürger erfordert, daß die voll und ganz wissen, um was es gehen soll. In den Dunkelkammer-Methoden des Konvents verbargen sich bestimmte strategische Kalküle. Für Jacques Chirac ist das Europa, das er anstrebt, die Fortsetzung der französischen Großmachtambitionen in zeitgemäßer Gestalt und mit deutlich antiamerikanischer Spitze. Für die rot-grünen Strategen in Berlin, Schröder und zumal Fischer, geht es hingegen um die Opferung des ungeliebten deutschen Nationalstaats von 1990 auf dem Altar einer angeblich unvermeidlich "postnationalen" Epoche in Europa, bei der die Deutschen - "aufgrund ihrer Geschichte" - vorangehen und dem europäischen Fortschritt den Weg bahnen sollen. Da stört dann nicht, daß die Pariser Politik den Deutschen bei diesem Vorhaben wieder einmal die Funktion einer modernen Variante rheinbündischer Hilfstruppen zuweist.

Das Pariser Ziel eines Europas als Akteur, "der in der Welt zählt", wie es Außenminister de Villepin formulierte, trifft jedoch auf die Realität einer europäischen Bevölkerung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach der bequemen Losung gelebt und überlebt hat: "Im Schatten des Großen Bruders ist gut ruhen." Im Schutz der USA während des kalten Krieges konnte dieses Europa seine Sozial- und Versorgungsstaaten ausbauen, so daß ihm heute mehrheitlich Kraft und Willen fehlen zu jenem grundlegenden Politikwechsel, den der Plan Chiracs realistischerweise voraussetzt. Die militärischen Kräfte, die hierzu nötig wären, würden wirtschaftliche und finanzielle Mittel erfordern, die zu einer völlig anderen Ressourcenverteilung auf Kosten des Sozialstaates führen müßten. Doch derzeit fehlen in Europa die politischen Führungsgruppen, die das durchsetzen könnten, sowie die Bevölkerungen, die dazu bereit wären. Weder antiamerikanische Emotionen noch linke oder rechte Wunschvorstellungen nach dem Motto "Wir sind wieder wer" reichen hier aus.

Die CSU sprach an der Jahreswende davon, daß die Konsequenz aus dem Scheitern des Verfassungsentwurfs nur ein völliger "konzeptioneller Neubeginn" sein könne, der "in eine andere Richtung" weise. Mit anderen Worten: In der Europapolitik muß ein neuer Realismus einkehren, der von manchen bisherigen Illusionen Abschied nimmt, vor allem von der Illusion des Verfassungskonvents, mehr "Integration" führe automatisch zu mehr Effizienz, europäischer Stabilität und "Weltgeltung" (was immer dies wäre). Der neue Realismus müßte vielmehr der Regel "Weniger ist in vieler Hinsicht mehr" folgen. Ein Europa, das die Bürger sich wirklich zu eigen machen können, verspricht mehr Wirkung, Leuchtkraft und Stärke als ein Europa der Brüsseler Eurokraten, der wirtschaftlichen und politischen Klassen. Wenn es eine zu beherzigende Lehre aus dem europäischen Krisenjahr 2003 zwischen der Irak-Krise im Frühjahr und dem Scheitern des Verfassungsentwurfs im Dezember gibt, dann ist es die, daß sich gerade in der Krise die nationalstaatlichen Interessen als stärker erwiesen denn hochfliegende Integrationshoffnungen und daß sich die Menschen und auch die Politiker wieder mehr an den jeweiligen konkreten nationalen Interessen orientieren als an den Konzepten eines angeblich mehr und mehr postnational werdenden Europas. Auch andere Grundtatsachen sind in den Krisen wieder deutlicher geworden, vor allem, daß England und Frankreich als (begrenzte) Kernwaffenmächte nach wie vor nicht bereit sind, diese Positionen auf dem europäischen Integrationsaltar zu opfern, was allen Wünschen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik enge Grenzen setzen muß. Immer deutlicher erweist sich die europäische "Finalität" einer "immer engeren Union" und Integration als deutsches Wunschgebilde, insbesondere des postnationalen derzeitigen deutschen Außenministers.

Und dieser neue europapolitische Realismus hat dann auch Auswirkungen auf die deutsche Europapolitik. Sie hat in den letzten Jahrzehnten allzu unkritisch auf eine angeblich alternativlose immer intensivere europäische Integration gesetzt. So haben gerade auch die deutschen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Couleur, das ihre zur schleichenden Entwicklung der Europäischen Union zu einem zentralistischen Superstaat beigetragen. Kein Mitgliedsland war dabei derart bereit, die eigenen Interessen im Dienst an der "großen Sache" hintanzustellen wie Deutschland mit den logischen Folgen, daß der bevölkerungsstärkste Mitgliedsstaat zwar größter Nettozahler wurde, sein politischer Einfluß sich jedoch da- zu umgekehrt proportional entwickelte. Man denke nur an den deutschen Personalanteil in Brüssel oder gar an die empörend schwache Rolle, die die deutsche Sprache in der EU spielt. Deutsche Vorleistungen im Blick auf die voranschreitende Integration erweisen sich heute immer mehr als kontraproduktiv, sowohl national wie europäisch. An das große Vorbild der französischen Interessenpolitik im europäischen Gewand kommt die deutsche ohnehin nicht auch nur entfernt heran.

Das jüngste Beispiel dazu hängt unmittelbar mit der Osterweiterung der EU zusammen. Danach werden die osteuropäischen Beitrittsländer ab Mai 2004 Fördermittel aus Brüssel für Investitionen aus EU-Ländern erhalten. Viele dieser Investitionen sind aus Deutschland zu erwarten, in Gestalt der Verlagerung von Betrieben mit entsprechendem deutschen Arbeitsplätzeverlust. Da Deutschland mit etwa 25 Prozent am EU-Haushalt beteiligt ist, ergibt sich daraus auch in diesem Fall eine deutsche Finanzierung möglicher gravierender eigener Verluste.

Ein bisher noch in keiner Weise auch nur erkanntes, geschweige denn gelöstes europäisches Problem ist auch die Einwanderungspolitik, wie sie gerade von Frankreich und Deutschland im Namen bestimmter Prinzipien wie der Menschenrechte oder "republikanischer" Staatsbürgerschaftsrechte betrieben wird. Das Ergebnis sind fünf bis sechs Millionen Moslems im heutigen Frankreich, besonders aus Nordafrika, und weit über zwei Millionen moslemische Türken in Deutschland. Diese Einwanderung nach Europa dokumentiert sich inzwischen unübersehbar in den moslemischen Vorstädten der französischen Ballungsgebiete und in den wachsenden türkischen Ghettos der dritten Einwanderungsgeneration in den deutschen Städten. Auch diese Dogmen des französischen republikanischen Bodenrechts wie der gezielten Multikulturalität bei den deutschen Rot-Grünen bedürfen dringend einer Überprüfung durch eine realistische Europapolitik, wenn Europa ein im Kern europäisches Europa bleiben und nicht ein kulturell wurzelloser Großraum werden und der islamistischen Landnahme den Boden bereiten soll. Der europapolitische Realismus gebietet, daß gerade auch dieses Problem am Beginn des neuen Jahrhunderts entgegen der "Political Correctness" und in Verantwortung vor den Nachkommen in unverkrampfter Offenheit thematisiert wird.

Bedrängt: Die Vorstellungen von Europa sind vielfältig. Joschka Fischer (r.) und Jacques Chirac (l.) versuchen Schröder auf ihren Kurs zu bringen, doch vor allem die neuen Beinahe-Mitglieder zerren in eine andere Richtung. Foto: Reuters