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Preußische Allgemeine Zeitung / 28. Februar 2004
Estland, Lettland und Litauen gehören zu den kleinsten europäischen Staaten. Im Ausland werden sie und ihre Titularvölker oft als kulturpolitische Einheit wahrgenommen. Dann ist von "dem Baltikum" und "den Balten" die Rede. Zur geographischen Einordung der heute südlich des Finnischen Meerbusens lebenden Völker ist das sinnvoll, ansonsten allerdings durchaus fragwürdig. Von "den Balten" im obigen Sinne zu sprechen, ist schon deshalb falsch, weil der Begriff besetzt ist und die früher in Estland, Livland und Kurland beheimatete deutsche Oberschicht zusammenfaßt. Auch sonst ist die vereinheitlichende Wortwahl irreführend, denn Esten, Letten und Litauer sind grundverschiedene Völker. Das fängt bei schon bei Herkunft und Sprache an - Letten und Litauer sind indogermanischer Abstammung, die Esten finnougrischer - und schließt die Mentalitäten, die Konfessionen und die räumliche Selbstverortung ein. Estland und Lettland haben eine lutherische Prägung, Litauen dagegen ist tief katholisch bzw. noch immer etwas heidnisch. Vor allem die von ihren südlichen Nachbarn oft als maulfaule Individualisten eingeschätzten Esten sehen sich in engem Zusammenhang mit Skandinavien und betonen ihre geographische wie abstammungsmäßige Nähe zu den Finnen. Die Letten orientieren sich ebenfalls weitgehend am Norden, besonders an Schweden, während sich die stärker zur Gruppenbildung neigenden und als vergleichsweise temperamentvoll geltenden Litauer (manche sprechen gar von den "baltischen Italienern") mehr in Mitteleuropa verorten. Daß sich der Sammelbegriff Baltikum bei uns trotzdem viel stärker durchsetzte als etwa die Benelux-Staaten, hat seine Ursache zum einen in der verbreiteten Unkenntnis Ostmitteleuropas, zum anderen in den großen geschichtlichen Parallelen. Man denke an die Eroberung und Christianisierung durch den Deutschen Orden bzw. den Schwertbrüderorden, an den beträchtlichen schwedischen bzw. später russischen Einfluß sowie an das Trauma des Hitler-Stalin-Paktes und die Zwangsherrschaft Sowjetrußlands, gegen das nach dem Zweiten Weltkrieg ein jahrelanger erbitterter Partisanenkrieg geführt wurde (in Estland beteiligten sich daran etwa 10 000 "Waldbrüder", in Lettland waren es 10 000-15 000 und in Litauen ungefähr 30 000). Alle drei baltischen Völker waren in ihrer langen Geschichte nur für kurze Zeit selbständig. Die existenzbedrohende Unterdrückung durch die großrussischen Kommunisten bildete nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990 die Grundlage für eine sehr ähnliche Geschichtspolitik. Begriffe wie der "Baltische Weg" oder Einrichtungen wie das "Baltic Defense College" und das Luftüberwachungsprogramm "BALTNET" zeugen von den gemeinsamen Leiderfahrungen. Ebenso spiegeln einige erstaunliche Politikerkarrieren diese Historie wider und verdeutlichen die aus den Erfahrungen der Sowjetzeit hervorgegangene tiefe Sehnsucht nach Westbindung. Hier sei nur an den ehemaligen estnischen Präsidenten Lennart Meri erinnert, der als Zwölfjähriger mit dem Rest seiner Familie deportiert wurde, oder an das aus der US-Emigration heimgekehrte litauische Ex-Staatsoberhaupt Valdas Adamkus. Nicht minder beeindruckend ist der Lebenslauf der seit knapp fünf Jahren amtierenden lettischen Präsidentin Vaira Vike-Freiberga. Diese war gerade mal sieben Jahre alt, als sie 1944 mit ihrer Familie floh. In Kanada brachte sie es dann bis zur anerkannten Professorin für Psychologie an der Universität Montreal. Nach der Emeritierung 1997 kehrte Freiberga sofort nach Lettland zurück. Verarbeitet wird die 50 Jahre währende Ära der Fremdherrschaft (1940-90) nicht zuletzt in einigen großen und vielen kleineren Museen und Gedenkstätten. In Estlands Hauptstadt Reval (Tallinn) zeigt das im Juli 2003 eröffnete, unweit des Parlaments gelegene "Museum der Okkupationen" Hunderte Videofilme, Fotos und Gegenstände, die vom Leid der über 35 000 in Viehwaggons nach Sibirien verschleppten Esten erzählen sowie von den etwa tausend unter der NS-Herrschaft verschwundenen Juden des Landes. Man kann Videos mit Zeitzeugenberichten ansehen, originale Sträflingsanzüge oder in ihrer Nüchternheit beklemmende stählerne Gefängnistüren. Die Außenwände des Hauptgebäudes zeigen ein Relief mit zahllosen lädierten Koffern, die die überstürzte Flucht von etwa 100 000 Esten vor der 1944 zurückkehrenden Roten Armee symbolisieren. Zu den damaligen Flüchtlingen gehörte Olga Ritso, die seit 1949 in den USA lebt und zusammen mit ihrem Mann den Bau des Museums durch eine Spende von zwei Millionen Dollars überhaupt erst ermöglichte. Das Schiff, mit dem sie über die Ostsee ihre Heimat verlassen hatte, war von sowjetischen Bombern verfolgt und beschossen worden. Ein weiteres Flüchtlingsboot, das den Transport begleitete und auf dem sich die Schwester befand, wurde vor ihren Augen versenkt. In Riga gibt es direkt neben dem wiederaufgebauten Schwarzhäupterhaus ebenfalls ein "Museum der Okkupation". Es befindet sich im selben Gebäude, in dem die Kommunisten einst das Andenken an die lettischen "Roten Schützen" feierten. In Litauen hat das zeitgeschichtliche Interesse auch skurrile Blüten getrieben. In der 120 Kilometer südwestlich von Wilna gelegenen Ortschaft Grutas entstand eine an die Sowjetherrschaft erinnernde Mischung aus Freizeitpark und Freilichtmuseum. Ein 30-Hektar-Gelände wurde mit Stacheldraht und Wachttürmen umgeben und soll den Eindruck eines Gefangenenlagers vermitteln. Überall stehen ausgediente Denkmäler einstiger Sowjetgrößen herum - Lenin, Stalin usw. Bei dem kommerzträchtigen Unterfangen handelt es sich nach Angaben der Betreiber um den ersten und bislang einzigen Sowjet-Themepark der Welt. Das inoffiziell als "Stalin World" bezeichnete Gelände ist zum Ziel heftiger Kritik geworden. Insbesondere manche der rund 60 000 überlebenden Deportationsopfer in Litauen werfen den Machern Verhamlosung des roten Terrors vor. Sie empören sich über Konzepte wie das von der geplanten eigenen Eisenbahnverbindung nach Wilna, die Besucher in Viehwaggons in den Freizeitpark bringen soll, um ihnen einen "Eindruck von den Massendeportationen" zu vermitteln. All das erinnere vor allem an die amerikanischen Disney-Parks und tauge nicht zu einer echten zeitgeschichtlichen Beschäftigung mit einer der schlimmsten Gewaltherrschaften der Menschheitsgeschichte, sagen die Kritiker. Auf jeden Fall verbindet die Erinnerung an die sowjetische Besatzung die drei Länder aufs engste. Mit wachsender Distanz zur "Singenden Revolution" gegen Moskau wird dieses Bindeglied jedoch immer schwächer und rückt die fortbestehenden Unterschiede zwischen den baltischen Völkern in den Vordergrund. - Mit deren EU-Beitritt wird es auch für die Deutschen Zeit, sich genauer mit diesen Unterschieden zu befassen. Estland: Gräber für in der Fremde umgekommene Sibirien-Deportierte Foto: Hailer-Schmidt |