Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 06. März 2004
Im Juni 1991 Juni bestand erst seit kurzer Zeit die Möglichkeit, das russisch verwaltete Ostpreußen zu besuchen. Meine Frau Ingrid, geboren in Hessen, mein Sohn Jochen, 24 Jahre, meine Tochter Isabel, 16 Jahre, und ich reisten mit einer Gesellschaft in einem ältlichen Bus über Warschau, Minsk, Gumbinnen nach Rauschen. Die Fahrzeit betrug 32 Stunden. Die Ankunft in Rauschen erfolgte um 2 Uhr nachts. Untergebracht wurden wir in dem für Touristen vorgesehenen oberen Stockwerk eines Heimes für russische Mütter mit ihren Kindern. Wir erhielten die Mitteilung, daß der Tag zur eigenen Verfügung stehe, russische Fahrer könnten gemietet werden. Um 6 Uhr hörte ich Stimmen und sah viele Autos warten. Sofort eilte ich hinunter und fragte: Gibt es jemanden, der Deutsch spricht? Einer mit Namen Nikolay meldete sich. Für 70 D-Mark den Tag mietete ich ihn einschließlich Auto. Nikolay stellte sich als gebildeter Russe mit Kenntnissen in vier Sprachen heraus. Ich erklärte ihm, daß wir nach Polleiken wollten, 110 Kilometer von Königsberg entfernt, er möge mich zur Ausfahrt in Königsberg Richtung Wehlau bringen, dann würde ich ihn führen. Er blickte mich ungläubig an und fragte mich, wie alt ich war, als ich das letzte Mal in Königsberg gewesen bin. Meine Antwort lautete: 14 Jahre. Wir hatten Königsberg höchstens zweimal im Jahr besucht. Ich zeigte ihm den Weg. Ich hatte gehört, das Rittergut würde nicht mehr existieren. Doch die Überraschung beglückte uns. Fast alle Stallungen, das Gutshaus und 60 Prozent der Gutstagelöhnerhäuser standen in einem für das Gebiet erträglichen Zustand. Leider regnete es stark. Es war ein Sonnabend, vor der Haustür hing ein großes Schloß. Nikolay sagte, er hole den Schlüssel. Mit einem älteren Russen kam er zurück, es war der Rektor der Schule. Seit 1953 diente das Gutshaus als Schule für 100 Kinder mit 13 Lehrern. Der Rektor freute sich, einen ehemaligen Bewohner des Hauses begrüßen zu können. Bei Öffnung der Türe stellten wir fest, daß das Parkett von frischer brauner Farbe glänzte. Das Betreten des Hauses fiel somit aus, die Enttäuschung war groß. Ich sagte, wir kommen am Dienstag wieder. Der Rektor erwiderte, er sei an dem Tag mit den Kindern in Königsberg, doch zeigte er uns die Familie, wo er den Schlüssel hinterlegen würde. Nach einiger Unterhaltung verabschiedeten wir uns. Der letzte Satz des Rektors lautete, daß wir in den Schulferien im Haus wohnen könnten. Dieses Angebot erfaßte ich erst auf der langen Rückfahrt. Wir verabredeten uns mit Nikolay an einem Platz in Rauschen für Dienstag. Dieser Tag wurde ganz Polleiken gewidmet, das Haus vom Keller bis zum Boden besichtigt, wie auch der Park und die Stallungen. Der vier Hektar große Park war, obwohl natürlich vollständig verwildert und zugewachsen, genauso wie früher, einschließlich der Bäume, Hekken und Thujen, die allerdings 50 Jahre in die Höhe gewachsen waren. Beim Abendessen in Rauschen erzählten alle Mitreisenden von ihren Erlebnissen. Wir konnten als einzige berichten, daß fast alles noch vorhanden sei. Anders sah es in Gr. Gnie, dem Rittergut, auf dem mein Vater geboren wurde, aus. Das Gutshaus war bis 1969 russischer Tanzclub. Danach fand sich keine Verwendung für ein so großes Gutshaus, und es wurde abgerissen. Die Stallungen und der Speicher hingegen wie auch die Leutehäuser waren zum größten Teil noch vorhanden. Kl. Gnie, das Rittergut meines Onkels und Stammgut der Familie Gutzeit seit 1736, hatte ein ähnliches Schicksal erlitten. Das Gutshaus war bis auf den Keller ebenfalls abgerissen. Bis heute verbindet uns mit Nikolay und seiner Frau Tanja eine gute Freundschaft. Ohne seine Mithilfe wäre ein jährlicher Besuch in Groß Polleiken nicht möglich. Er lädt uns ein, damit wir die Visa erhalten. Das klingt so einfach, ist jedoch jedes Jahr kompliziert und langwierig. Meist werden neue Unterlagen für die Einladung verlangt, und dies erfährt Nikolay erst kurzfristig. Anfang eines Jahres beginne ich mit den Vorbereitungen. Bis April muß Nikolay im Besitz der Daten der einreisenden Personen sein. Die Unterlagen können nur von Leuten, die das Gebiet besuchen, mitgenommen werden, die Einladungen von Nikolay erreichen mich auf demselben Wege, da die Post zu lange dauert und oft überhaupt nicht ankommt. 1992 fuhren meine drei Geschwister sowie Kinder von ihnen und uns mit, insgesamt zwölf Personen. Die Fahrt führte über Suwalki, einen direkten Übergang gab es noch nicht. An der Grenze bei Gumbinnen benötigten wir auf der polnisch verwalteten Seite sieben Stunden für den Grenzübergang. In Polleiken erhielten wir den Haustürschlüssel. Wir Geschwister bezogen unsere alten Zimmer, breiteten die Luftmatratzen an dem Platz aus, wo früher unsere Betten gestanden hatten. Wasser gab es nur unten in der Diele, ein kleines Becken mit einem Wasserhahn, der das Wasser nach oben zum Trinken für die Kinder abgab. Einen Abfluß gab es nicht, das verunreinigte Wasser gossen wir in einen Eimer und kippten es draußen aus. Das Elternschlafzimmer mit über 50 Quadratmetern diente als Küche, Eß- und Wohnraum. Der Rektor hatte die Schulmöbel aus den Zimmern oben in der Diele postiert. Als am unangenehmsten erwiesen sich die Toiletten. Sie befanden sich draußen im Garten. In der sommerlichen Wärme fühlte sich einiges Getier dort recht wohl. Nikolay befand sich selbstverständlich die ganze Zeit bei uns zum Dolmetschen. Einige russische Familien versorgten uns mit vorzüglichen Grundnahrungsmitteln und luden uns auch einmal abends zum Essen und natürlich Trinken - mit viel Wodka - ein. Bei einer Familie gab es eine Sauna, die am Samstag angeheizt wurde. Das war ein willkommener Anlaß für die gründliche Körperpflege. Die Autos parkten vor dem Haus. In der Nacht hörten wir Geräusche. Jugendliche betätigten sich an den Autos. Einige Scheibenwischer und Seitenspiegel büßten wir ein. Zwei von uns nächtigten in den Autos. Die anderen Nächte, auch die nächsten Jahre, erhielten die Autos bei einer russischen Familie im Hof, von Hunden bewacht, Unterkunft. Mit einigen Familien verband uns bald eine gute Freundschaft. Von Nikolay und seiner Frau erhielten wir in jedem Jahr eine Einladung zum Essen und Beisammensein. Seit dem Jahre 1993 konnten wir den Grenzübergang in Preußisch Eylau nutzen. Mit den verschiedensten Tricks kürzten wir die Wartezeiten an der Grenze auf ein bis drei Stunden ab. Bekannte, Verwandte und Familienmitglieder begleiteten mich über die Jahre. 1997 sollte die Schule wegen defekter Stellen im Dach und eines durch einen Kurzschluß ausgelösten kleinen Brandes geschlossen werden. Ich handelte im Beisein des Schulleiters in Angerapp mit der Behörde aus, daß ich die Materialien bezahle und die nötigen Arbeiten selbst durchgeführt werden. An einem Freitag fand eine Besichtigung der Schule statt, bei der wir die Mängel feststellten. Ich verlangte einen Kostenvoranschlag für die Materialien bis zum Dienstag, was auch geschah. In Angerapp tauschte ich die D-Mark in Rubel um. Es war ein Koffer voll Rubel. Nachzählen konnte ich die von der Bank vorbereiteten Rubel nicht. Da der Direktor die Bankverbindung nicht kannte, suchten wir das Schulkonto bei verschiedenen Bankhäusern. Glücklicherweise fanden wir das Konto schließlich. Ich gab das Geld der Dame am Schalter, die es, ohne zu zählen, annahm. Ein vorbereiteter Vertrag erhielt die Unterschriften der Behörde, des Direktors und von mir. In ihm waren die Reparaturmaßnahmen aufgeführt, und er war mit der Auflage versehen, daß das Schulgebäude mindestens fünf weitere Jahre als Schule genutzt werden muß. Nikolay erhielt den Auftrag, Ende August zu kontrollieren, ob das Dach dicht, die Dachrinnen erneuert und gereinigt, die Leitungen, vor allem die zentrale Schaltstelle, neu installiert, funktionsfähig und in Ordnung sind. Kopien der Rechnungen erhielt ich per Post. Im nächsten Jahr verlangte der Staat eine Küche. Gebrauchte Einrichtungen und sonstiges Gerät finanzierte ich wieder, der Staat stellte, wie im vorausgegangenen Jahr, keine Mittel zur Verfügung. Ich zeigte der Schulleitung, wo die Kanalisation verlief und die Wasserleitungen lagen. Die Küche erhielt Wasserversorgung und Abwasserabfluß. In den folgenden Jahren konnten wir sie durch die Installierung eines Warmwasserboilers und weiterer Geräte verbessern. Einen Fernseher und Videorecorder brachte ich durch den Zoll. Mit ihnen verbesserte sich der Unterricht. Bilder, wie Haus, Hof und Park früher aussahen, sowie unsere Familiengeschichte hängen in einem Klassenzimmer, so daß die Kinder erkennen, wie ein Land in 50 Jahren verfallen kann. Trotz Ferien kamen die meisten Kinder und Lehrer freiwillig an einem Tag in die Schule, um Fragen an uns zu stellen über die frühere Zeit. Ich teilte ihnen mit, daß Polleiken meine Heimat war und ist, daß es jetzt auch ihre geworden ist und daß sie diese Heimat so lieben mögen wie ich und versuchen sollten, nicht den letzten Rest der Kultur verfallen zu lassen. Sie bedankten sich und baten, ich möge noch oft kommen. Ferien an der Stätte der Kindheit: Karpauens stellvertretender Kirchspielvertreter Peter Gutzeit mit seiner Ehefrau Ingrid, seiner Tochter Isabel und seinem Sohn Jochen vor dem jetzigen Schulgebäude, in dem er bis zu Flucht und Vertreibung lebte und 1992 mit einem Dutzend Familienmitgliedern Urlaub machte. Foto: Gutzeit |