Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 20. März 2004
Herbert Kremp: Deutschland läßt sich über seine Fernsehwerbung definieren. Es geht um
eine bekannte Kaffeemarke. Ein Motorboot legt an einer Yacht an. Eine junge Dame
nimmt auf dem Sonnendeck Platz, von Verehrern eingerahmt. Sie schlürft. Einer
fragt sie, was sie sich wünsche. Und sie sagt, daß alles so bleiben soll, wie
es ist. Der Politologe Hans Jörg Hennecke bezeichnet in seinem gerade erschienenen
Buch "Die dritte Republik" deutsche Antworten wie jene der Dame als "isolationistische
Ernstfallverleugnung". Tatsächlich - niemand will, daß sich (für ihn) etwas
verändert, komme, was wolle. So außerirdisch dieses Verlangen auch anmutet, es
war und es ist ein deutsches Grundbefinden, zudem ein Anrecht-Anspruch -
Wellness-Standard, um ein Wort auf der Höhe unserer Sprachzeit zu wählen. Seit der Machtspaltung in der Hauptregierungspartei wissen wir, daß der
Reformimpetus gebrochen ist. Seit zwei Wochen, daß über die Ersatzreformidee
der "Innovationen" und Eliteschöpfung niemand mehr ein Wort verliert. Und
wir wissen seit Ende letzter Woche, daß der herbeigesehnte Reformersatz, mit
dessen Hilfe man alles Alte zu retten wähnt, der Geschäftsklimaindex der
Konjunkturerholung, wieder sinkt. Sogar die Gründe kennen wir: Die Reformen
waren nichts als Reparaturen am alten Strukturmodell, die Steuersenkung hat im
Saldo nichts gebracht, und der Euro ist so schädlich stark, weil der Dollar im
Kern nicht gesund ist. Das ist der Ernstfall. Seine Verleugnung indes ist viel älter, zählt nach Jahrzehnten. Wer die
deutsche Misere ausloten will, muß sich der Bundesarchäologie widmen. Auf der
50 Jahre alten Sohle wird er einen Mentalitäts-Duden finden, in dem folgende
Direktiven und Sinnsprüche rot und schwarz eingetragen sind: Konsens; gerechte
Verteilung und Wohlstand, "damit die Deutschen nicht wieder böse werden";
Frieden der ganzen Welt von deutschem Boden aus; wie man das Übel der
Veränderungsstörungen meidet. Dann ein Wort des Dichters Jean Giraudoux: "Wir
wollen ewige Sicherheit. Wir wünschen uns Jahrhunderte der Sicherheit, um in
Sicherheit bis ans Ende der Welt zu gehen und zum letzten Gericht."
Schließlich: "Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es
nötig, daß sich alles verändert." Dazu klein gedruckt: "Wegen
Doppeldeutigkeit ist dieses Aperçu aus Lampedusas ‚Leopard' in der
nächsten Dudenausgabe zu streichen." Blättern wir in späteren Ausgaben des Duden, finden wir Neueinträge, zum
Beispiel: Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, Gleichheit nach innen,
Entspannung nach außen, Reformen im Sinne erhöhter Ausgaben und
Beamtenvermehrung; dritte Welt und Emanzipation der Frau; Bildung für alle,
aber doch so, daß alle mitkommen. Man braucht es nicht zu erklären: Wir
befinden uns jetzt in der dialektischen Phase der Bonner Republik der frühen
70er Jahre, wir lesen das Brandt-Wort "Compassion", Welt-Mitleiden im Sinne
der Sozialistischen Internationale und deutscher Vergangenheitsbewältigung. Wenn wir nun aus dem Schacht der deutschen Mentalität in die Zeit
hinaustreten, in der Hans Jörg Hennecke die "dritte Republik" - nach der
Weimarer und der Bonner - gekommen sieht, finden wir im Duden alle Wörter
wieder, die uns in den bisherigen Ausgaben begegnet sind. Die Deutschen, wenn
auch vereinigt, sind sich sehr gleich geblieben. Am kostenschweren Duktus ihrer
Lebensbegriffe hat sich nichts geändert, so anders auch Umstände und Umwelt
geworden sind. Was heißt dann aber "dritte Republik", wenn Mentalität und
als "Rechte" einklagbare Ansprüche immer noch dieselben sind? Zum Ärger gesellt sich Erregung vor allem über das früher hoch gepriesene
Wort Reform. Aus dem Synonym für Wohltaten ist organisierte Konfiskation, Kürzung der Renten,
Gesundheitsleistungen und Subventionen geworden - eiskalte Kostenjustierung. Die
Demoskopie signalisiert Entfremdung. In ihrem Spiegel erscheint die "dritte
Republik" als Wegelagerer, als Beutelschneider, der die soziale Philosophie
der alten Republik, das mit Moral verbrämte soziale Verteilungswesen, mit
kaltschnäuzigem Fiskal-Pragmatismus außer Kraft setzt, ja geradezu
unterpflügt. Jedem Bürger schwant, daß der Staat an Haupt und Gliedern erneuert werden
muß, wenn er den Monstern des 21. Jahrhunderts widerstehen soll. Die
Globalisierung nach Freigabe des Kapitalverkehrs, Terrorismus und
Umweltkatastrophen, die nach Analyse des Pentagon mittelalterlich anmutende
Unruhen und Kriege hervorrufen können - dieses wilde "rouge et noir" läßt sich mit den Verheißungen der Duden deutscher Sorgenfreiheit
nicht beantworten. Die Herausforderung verlangt eine Leitidee, wie zur Zeit der
preußischen Reformen, eine Leitkultur, ein schöpferisches Wagnis. Das aber bietet die "dritte Republik" mitnichten. Die Arretierung
Deutschlands beruht auf einer tiefen mentalen Krise. Während der Zeiger der
Weltzeituhr unerbittlich seine Kreise zieht, dreht die politische Klasse ihre
archaischen Walzer, linksherum, rechtsherum, traurige Winke verteilend wie
einstmals blankes Geld. Die im Frieden Geborenen regieren zum ersten Mal die
Republik, biographisch früh ermüdet. Unter tausend Watt und Kameras im
Berliner Spiegelsaal müpfen sie einmal gegen die USA auf, einmal gegen die EU
und brechen die Erneuerungsreformen ab, weil das Parteimilieu nicht mitzieht und
das Charisma der Idee sie nie berührt hat. Innerlich, so möchte man glauben,
haben sie am Land den "Spaß" verloren - geliebt haben sie es nie. Das legt sich wie ein Tief über Deutschland. Der Ironie bleibt nur des
Ökonomen Schumpeters Bonmot, von Hennecke zitiert: Es vergleicht den
demokratischen Politiker mit dem Reiter, der vom Versuch, sich im Sattel zu
halten, so in Anspruch genommen wird, daß er keinen Plan für seinen Ritt
aufstellen kann. Die Frage ist: Wo endet dieser deutsche Ritt? Dr. Herbert Kremp ist seit rund 35 Jahren für Die Welt tätig - unter
anderem als Chefredakteur, Mitherausgeber und Chefkorrespondent in Peking und
Brüssel. (Aus: Welt am Sonntag)
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