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Preußische Allgemeine Zeitung / 20. März 2004
Polemik gegen Deutsche Ein parteiübergreifendes
Bündnis will in Stettin eine
Volksabstimmung über die Abwahl von Oberbürgermeister Marian Jurczyk
erreichen. Seit Mitte Februar werden Unterschriften gegen den einstigen "Solidarnosc"-Gewerkschafter
gesammelt. Liberale, Konservative und Sozialdemokraten werfen dem parteilosen
Jur-czyk vor, durch Vetternwirtschaft Korruption zu begünstigen, Investoren
abzuschrecken und für die Stadt schädliche Entscheidungen getroffen zu haben. Stettin ist eine kraftvolle Wirtschaftsinsel innerhalb der
ansonsten eher ärmlichen pommerschen Landschaft. Gewaltige Hotelanlagen, große
Einkaufszentren und Bürokomplexe künden vom neuen Wohlstand. Die
Firmenschilder von Rossmann und Adler-Mode-Markt signalisieren, daß sich auch
deutsche Handelsketten ihren Kundenanteil sichern wollen. Mit der
EU-Osterweiterung verbindet man in Stettin die Hoffnung, erneut der Vorhafen von
Berlin und der mitteldeutschen Industrieregion zu werden. Bislang gehen
aber nur sechs Prozent des gesamten Stettiner Hafenumschlags nach Berlin. Gerade mal 130 Kilometer holprige Autobahn trennen die
pommersche Hauptstadt von der Spreemetropole. Damit liegt die 420
000-Einwohner-Stadt näher an Berlin als Leipzig oder Rostock. Trotzdem wird der
Großteil der für Berlin bestimmten Warensendungen in Rostock oder in Hamburg
umgeschlagen. Stettin ist so nah und doch für die Spediteure so fern. Das
liegt zum einem an der noch vorhandenen EU-Außengrenze, und es liegt sicherlich
auch an der fehlenden Infrastruktur. Oder anders ausgedrückt: Derzeit können
die Container über Hamburg, Lübeck, Rostock und Stralsund besser, schneller
und sicherer die mitteldeutschen Industrieregionen erreichen. Piotr Twardochleb vom Stettiner Hafenentwicklungsbüro weist
auf ein zentrales Problem hin: Kein Spediteur könne das Risiko kalkulieren,
daß seine Ware mal eine, mitunter aber auch 20 Stunden an der Grenze festhängt. Schiffe fahren von Berlin aus in knapp zwei Tagen an die
Ostsee. Die Bahnlinie nach Stettin besteht bereits 160 Jahre. Berlins
Wirtschaftssenator Harald Wolf, der kürzlich in Begleitung einer vielköpfigen
Wirtschaftsdelegation in Stettin mit den dortigen Behörden verhandelte,
sicherte den Gastgebern sein Interesse an einer Belebung der alten Verbindung
zu. O-Ton Wolf: "Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen
Berlin und Stettin haben eine lange Tradition. Ich will auch betonen, daß
spätestens im kommenden Jahr die Kontakte zwischen Berlin und Stettin Alltag
werden müssen, wenn wir gemeinsam die Chancen der EU-Osterweiterung ergreifen
wollen. Ich bin davon überzeugt, daß auf beiden Seiten der Oder in den
kommenden Jahren eine ähnliche Kooperation entstehen wird, wie sie in früheren
Jahrzehnten entlang des Rheins über politische Grenzen hinweg gewachsen ist." Zahlreiche Einwohner des heutigen Stettins sehnen den Fall
der EU-Grenze herbei, um ihr Hinterland wieder erschließen zu
können. Für die Polen liegt Berlin ohnehin nahe. Zum Einkaufen fahren viele
über die Grenze, und Lokalzeitungen drucken regelmäßig das Berliner
Kulturprogramm ab. Wenn Polen ab Mai Mitglied der EU ist, wollen die beiden
Städte am Grenzregionenprogramm der Staatengemeinschaft teilnehmen. Die
Verwaltungen sollen 40 deutsch-polnische Tandems bilden und zusammenarbeiten. In
Stettin ist u. a. ein neues Containerterminal geplant, und man möchte mit der
Berliner Hafengesellschaft Behala enger kooperieren. Bisher verschifft die Behala vor allem leere Container nach
Stettin, für die es wegen der Berliner Exportschwäche keine Ladung gibt.
Anstatt sie per Lkw nach Hamburg zu bringen, schippern die Kisten der
Odermündung entgegen. Die Polen haben Exportüberschuß, außerdem ist die
Wartung der Container dort billiger. Hier klappt die Zusammenarbeit schon jetzt, was allerdings
nicht alle freut. Einer, der solche Nachrichten höchst ungern hört, ist eben
jener umstrittene Oberbürgermeister Jurczyk. Zu Hause in seiner geschäftigen
Hafenstadt stört er seit einiger Zeit die Kreise der Unternehmer. Der
68jährige ist das, was man bestenfalls einen Populisten nennt, um nicht
Begriffe wie Schreihals oder Aufwiegler zu verwenden. Politisch aufgewachsen in
der Gewerkschaft "Solidarnosc" (Solidarität) wetterte er einst gegen die
kommunistischen Machthaber und kämpfte für Arbeiterrechte. Heute schimpft er über Investoren im allgemeinen und die
Deutschen im besonderen und kämpft weiterhin für nationale Einheit und soziale
Arbeiterfürsorge. Marian Jurczyk ist schon mehrfach mit deutschfeindlichen
Sprüchen aufgefallen. So erklärte er während seiner ersten Amtsperiode als
Stadtpräsident, daß ihm schwedische oder dänische Investoren lieber seien als
deutsche. Auch jetzt zieht er wieder pauschal gegen die Deutschen zu
Felde. Auf sein Drängen faßte das Kommunalparlament einen Beschluß zur "Wahrung
der Eigentumsansprüche der Polen". Jene Polen, die bisher nur über
Pachtverträge für ihre Wohngrundstücke in der pommerschen Landeshauptstadt
verfügen, sollen die Immobilien noch vor dem EU-Beitritt kaufen können. Dieser in der ersten Dezemberwoche gefaßte Beschluß sieht
obendrein umfangreiche Finanzhilfen seitens der Kommune vor. Damit sich
möglichst viele Polen den Kauf leisten können, sollen sie für die
Grundstücke nur zehn Prozent des eigentlichen Verkehrswertes bezahlen müssen.
Wer in der Lage ist, das Geld sofort und nicht in Raten aufzubringen, hat sogar
nur fünf Prozent zu entrichten. Marian Jurczyk erklärte zur Begründung: "Es genügt
nicht, daß die weiß-rote Fahne über dem Rathaus weht. Unsere Souveränität
hängt davon ab, wieviel Eigentum wir besitzen." Erwartungsgemäß wurde er
auch deutlicher, gegen wen sich der merkwürdige Beschluß richtet. Tausende
Deutsche hätten bereits erklärt, daß sie nach dem polnischen EU-Beitritt ihre
Besitzansprüche auf früheres Privateigentum geltend machen wollten. Und, so
Jurczyk, "wir wissen nicht, wie sich die Europäische Union dazu verhalten
wird". Obwohl die unterschiedlichen Parteien und Gruppierungen in Stettin diesen
(einstimmigen) Beschluß aus Überzeugung mittragen, sind sie der sonstigen
Allüren des Oberbürgermeisters überdrüssig geworden. Insbesondere dessen
rhetorischer Dauerfeldzug gegen deutsche und andere ausländische Investoren
erscheint ihnen als unverantwortliche Gefährdung der wirtschaftlichen Zukunft
der gesamten Region. Stettins neuer Wohlstand: Renovierte Häuser in der Innenstadt Foto: Nolopp
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