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20.03.04 / Das Haus der anderen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. März 2004

Das Haus der anderen
von Eva Reimann

Es war Anfang der 30er Jahre, ich muß damals acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als die Eltern mit uns Kindern nach einem Tiergartenbesuch auch in das Freilichtmuseum gingen. Der Königsberger Tiergarten war mit seinem parkartigen Gelände und den Tiergehegen uns Kindern von so manchem Familien- und Schulausflug her wohlbekannt. Immer mußte Jenny, die gewaltige Elefantendame, von uns Kindern begrüßt werden. Sie konnte nämlich Musik machen. Staunend standen wir vor der Abgrenzung und sahen, wie sie mit ihren großen Stampfern ein Pedal an der großen Pauke trat und dadurch Klöppel das Trommelfell in Bewegung brachten und, nicht genug, zwei große Schellen geräuschvoll aufeinanderschlugen. Dazu schlug Jenny den langen Rüssel hin und her.

Oh, und diese Schulausflüge! Vom Schauen und Spielen schon etwas ermüdet, saßen wir auf den Holzbänken an den langen Tischen, und über uns das Blätterdach der großen Bäume. Ein paar Dittchen Ausflugsgeld fest in der kleinen Kinderfaust haltend, warteten wir stolz auf die selbst bestellte Himbeerlimonade. Ja, den Tiergarten kannten wir Kinder gut. Was aber war ein Freilichtmuseum?

Das Gelände des Freilichtmuseums lag gleich neben dem Tiergarten. Als dieses nicht mehr ausreichte, wurde es nach Hohenstein verlegt, wo es heute noch zu besichtigen ist.

Mit dem Betreten des Freilichtmuseums umfing uns eine ganz andere Welt als die bisher vertraute. Die alten Häuser, aus all den verschiedenen Landschaften Ostpreußens zusammengetragen, mit ihren tief heruntergezogenen Dächern, den Giebelkrönungen und den behauenen Balken und Pfosten der Lauben und Laubengänge wirkten hier wie ein Dorf aus alter Zeit, ein schlafendes Dorf. Doch gleichzeitig hatte man die Empfindung, etwas würde gleich dieses Dorf zum Leben erwecken. Wir hatten das Verlangen zu sehen, wie die Menschen in den Häusern gelebt hatten, betraten das Kurische Fischerhaus und sahen uns in der Stube um. Bunte, handgewebte Flickerteppiche bedeckten den hell gescheuerten Fußboden. Die Sitzecke mit den Holzbänken und Bauernstühlen um den Tisch, mit den Wandborden, verziert mit farbig angestrichenen Profilleisten, wirkte so gemütlich, daß man sich die Familie bei den Mahlzeiten um den Tisch herumsitzend vorstellen konnte. Und dann sah ich das Bett der Eltern mit dem dicken Federbett und dicht dabei die alte schwere Kinderwiege. Die Mutter brauchte nur den Arm auszustrecken, um die Wiege zu schaukeln und das unruhige Kind zu beruhigen. Heute noch sehe ich vor mir das kleine Bettzeug in der Wiege, den etwas vergilbten Bezug mit den Streublümchen. Im Kopfkissen war eine kleine Delle, als hätte da ein Kinderköpfchen gelegen, als hätte man das Kind vor kurzem erst aufgenommen.

Da durchfuhr es mich. Wer hatte hier gelebt? Etwas von diesen Menschen schien hier noch immer aufbewahrt und berührte mich. Wie, wenn ich in diesen so anderen Lebenskreis hineingeboren wäre? Bisher kannte ich nur meine abgeschlossene Welt. Es war, als spränge eine Knospe auf. Es gab soviel anderes Leben, wurde mir bewußt, so klein ich auch war. Meine Neugier auf die Vielfalt des Lebens war geweckt.

Sind wir nicht von dieser Neugier nach anderem Leben erfüllt, wenn wir nach einem Buch greifen, einen Film sehen oder in ein Fenster schauen, hinter dem sich Menschen bewegen? Was für ein Leben wird da gelebt? Einmal schien ich dieser Frage besonders nahe zu sein. Das Buch des Schicksals eines anderen Lebens schien aufgeschlagen vor mir zu liegen.

Es war auf der Flucht. Eben hatten wir noch das Geknatter der Geschütze russischer Tiefflieger über dem Flüchtlingstreck in den Ohren, dann war plötzlich Stille. Stille um uns herum. In Panik waren die Pferde mit unserem Wagen aus der endlosen Kolonne der Treckwagen ausgebrochen und jagten, nicht aufzuhalten, quer über Felder und Wege. Plötzlich blieben sie wie erstarrt vor einem Gehöft stehen. Ein ausgespannter Treckwagen stand da.

Ein großer roter Fleck im weißen Schnee. Nicht nur Menschenkinder erblickten auf der Flucht unter dem Geschützdonner das Licht der Welt - ein Fohlen war geboren. Geboren, um zu sterben. Schon stand der Bauer mit erhobenem Beil vor dem Fohlen. Er mußte es tun. Unsere Pferde zogen an und trotteten langsam in einen Seitenweg. Halb benommen folgten wir, als hätten wir den Pferden schicksalhaft zu folgen.

Um uns herum wurde es immer ruhiger. Unser einsam dahinziehender Wagen, so wurde uns bewußt, befand sich im Kessel der Front. Ein seltsames Gefühl nahm von uns Besitz, so, als lebe man abgeschnitten zwischen zwei Welten.

Wir zogen eine stille Dorfstraße entlang, nirgends Leben, verlassene Häuser. Wie anders ist die Stille eines verlassenen Dorfes als die Stille des Abendfriedens über einem Dorf. Ungefähr in der Mitte des Dorfes machten wir vor einem großen Haus halt. Es war das Haus des Mühlenbesitzers, wie sich herausstellen sollte. Die Haustür war nicht verschlossen. Wir traten ein, und es eröffnete sich uns eine besondere Szenerie. Die Betten waren einladend aufgeschlagen, auf dem Nachttisch lagen noch Hochzeitszeitungen. Im Wohnzimmer waren die Hochzeitsgeschenke aufgebaut, gestapelte Bettwäsche, umschlungen mit rotem Band. Wir gingen herum, als wären wir wohlvertraute Gäste, ordneten etwas und begossen die Zimmerlinden im Wintergarten, die es nötig hatten. In der Küche stand auf dem Fensterbrett ein irdener Topf mit saurer Sahne. Friedegard entdeckte im Keller ein Glas eingeweckte Rouladen. Bald flackerte im Herd ein wärmendes Feuer. Gerüche zogen durchs Haus, wohlbekannte Sonntagmittagsgerüche. Oh, wie haben wir diese Mahlzeit nach wochenlangen Entbehrungen genossen, genossen in einem fremden Haus, das wir als Fremde betraten und das sich uns in eigentümlicher Weise mit dem Schicksal seiner Bewohner geöffnet hatte.

Eine unbeschreibliche Wohltat war uns noch gegeben, als wir uns mit warmem Wasser endlich, nach Wochen der Flucht, waschen konnten, um dann in großer körperlicher Erschöpfung in eines der aufgeschlagenen Betten zu sinken. Schlafen, schlafen! Wir waren nur von diesem Wunsch beseelt. Draußen, unter freiem Himmel, oder auf dem Fußboden eines Hauses hatten wir bis auf wenige Ausnahmen die Nächte verbracht. Und jetzt, selige Ruhe um uns. Die Gedanken an die uns umgebende Wirklichkeit fielen ab.

Aus tiefer Versunkenheit langsam auftauchend, drangen, zuerst wie aus weiter Ferne, dann deutlicher, eindringliche Worte an unser Ohr. "Aufstehen! Aufstehen! Die Ruhe ist gefährlich. Wir sind in einem Kessel. Wir müssen los!" Es war die Stimme von Friedegard, die unseren Treck anführte, die uns wieder einmal mit einem ihr gegebenen Gespür für Gefahr aus der täuschenden Ruhe herausriß. Es war unsere Rettung.

Wir blickten noch einmal zurück, als wir das Haus verließen, auf das Haus, das uns für kurze Zeit schützende Geborgenheit gegeben hatte. Möge es den Menschen dieses Hauses gelungen sein, sich zu retten, um mit einem neuen Anfang ihren Schicksalsweg zu vollenden.

Noch heute denke ich manchmal, wenn ich durch eine stille Straße gehe und ein Haus mit erleuchteten Fenstern sehe, welcher Schicksalsweg den Menschen dieses Hauses wohl bestimmt sei. Niemals aber werde ich das Haus vergessen, das uns auf unserem Fluchtweg so gastlich aufnahm - das Haus der anderen ... 

Bewahrte Vergangenheit: Vorlaubenhaus im Freilichtmuseum Hohenstein. Wer mag einst einmal darin gewohnt haben? Foto: Prengel


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