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27.03.04 / In der Nacht ruft Urte an

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. März 2004


In der Nacht ruft Urte an
von Esther Knorr-Anders

Ich legte den Kugelschreiber hin, nahm die Brille ab. Für heute sollte Schluß sein. Es war spät geworden. Gleich dreiviertel zwölf. Ich öffnete einen Fensterflügel, um Luft in die Rauchschwaden zu lassen. Ich blieb dort stehen. Zwischen meinem Standort und dem Lichtradius der Straßenbeleuchtung schienen Schleier zu hängen; Wasserschleier dieses wochenlangen Regens. Sie erinnerten mich an einen der ältesten Mythen: an einem beliebigen Tag hatte es zu regnen begonnen. Es regnete am dritten Tag und noch am dreizehnten, selbst der vierzigste Tag soll nicht regenfrei geblieben sein. Ein Pessimist baute eine Arche.

Wind fuhr durch die Bäume, drückte die Äste, ließ sie hochschnellen. Das mochte in jener Gegend, wo sie wohnte, Föhn sein. Bei Föhn aber rief sie meistens an. Nicht, weil sie mir eine Wetteransage durchgeben wollte, sondern ...

Heute war mir der Gedanke, daß sie anrufen könnte, unsympathisch. Ich fühlte mich abgespannt. Das ist nicht die günstigste Verfassung für einen mitternächtlichen Anruf. In der tiefen Stille rauschte der Regen wuchtiger hernieder. Wie üblich würde sie sich allein in der Wohnung befinden, und so würde die Verstrickung zunehmen, je weiter die Nacht voranschritt. Ich ließ das Fenster einen Spalt offen. Nun waren Wind und Regen schwach zu hören, beruhigend. Was mochte sie nur gegen Wind und Regen haben? Oft hatte ich ihr geraten, ein Glas Wein zu trinken, zur Entzerrung. Das wollte ich meinerseits tun. Eine letzte Zigarette dazu. Es tat gut. Ob sie jetzt ebenfalls ...?

Seit frühester Kindheit waren wir befreundet. In Königsberg war es gewesen. Das Viertel nannte sich "Hufen" oder "Auf den Hufen". Wir fanden uns in einer Wildnis aus Hagebuttenhecken und Huflattich. Ich nehme an, daß sie mich lieber mochte als ich sie. Urte war ein ängstliches Kind; von sich aus religiös. Zu meinem Entsetzen stiefelte sie Sonntag für Sonntag zum Kindergottesdienst, also zur besten Tummelzeit. Nichts konnte sie davon abhalten; nicht das Auskundschaften eines Flußlaufs in der

"Fürstenschlucht", auch nicht das Herumklettern auf ausrangierten Lokomotiven und Kohlewagen, die auf toten Gleisen der Strecke Nordbahnhof-Cranz abgestellt worden waren. Urte begriff nicht, wie weit eine solche Lokomotive fuhr, sobald ich die Hände auf den Lenker preßte. Wie weit? Ja, eigentlich bis hier ...

Einmal, in der Augustnacht 1944, während des Bombardements der Stadt, muß Urte draufgängerisch gehandelt haben. Es wird korrekter sein zu sagen: mutig und tapfer. Als ich die Augen aufschlug, hockte sie, auf dem vom Feuerschein erleuchteten Rasen, neben mir. Wir waren soeben, oder vor Stunden, aus dem Luftschutzbunker geborgen worden, dessen hinterer Teil einen Volltreffer erhalten hatte. "Sie haben dich gefunden. Es sind jetzt alle ausgebuddelt." Wegen des Funkenfluges waren ihre Haare und die Schultern mit nassen Tüchern umwickelt. Konzentriert, mit ruhigen Fingern, ließ die Elfjährige Tropfen auf ein Stück Zucker fallen. Das steckte sie mir zwischen die Lippen. "Sie haben gesagt, ich soll dir das geben." Es schmeckte widerlich. Sie zog mir ein ebenfalls nasses Tuch über die Stirn. Vor uns, ein Stück entfernt, loderten im "Kobschen Garten" Apfelbäume. Es knisterte. "Lach doch mal. Sag doch was." - "Ja", werde ich gesagt haben.

Ihre Kinderfinger blieben mir unvergeßlich. Im Laufe der Zeit erfuhr ich bei ihren nächtlichen Anrufen, daß sie ihren Jugendgeliebten nicht hätte heiraten dürfen, daß sie jahrelang Furcht litt, ihre Söhne umzubringen. "Es ist wie ein Zwang, verstehst du? Ich getraue mich nicht, an ihre Betten zu treten, solange sie schlafen. Aber ich will doch, daß sie leben, den ganzen Tag über will ich das." Weiter fürchtete sie sich vor dem Altern, vor Autoschlangen, Luftverschmutzung, Lärmbelästigung und manchmal vor dem gänzlichen Alleinsein, ohne einen Freund, eine erreichbare Freundin. Allein ist sie inzwischen. Auch zu dieser Stunde, bei dem noch immer rauschenden Regen.

Ich wollte das Fenster schließen. Das Telefon läutete. Der Ruf kam dreimal. Fünfmal. Jedes Läuten klang eindringlicher, schriller, überfallender und - lähmender. Erst beim siebten Mal stand ich auf. Es mußte wohl sein. Was sie auch erzählt, ruhig bleiben, sie hat die schlechteren Nerven, redete ich mir zu. Dann hob ich ab. Ich hörte ihre stets übereilende Stimme.

"Hallo, hier ist die Urte. Schläfst du schon?" - "Nein." - "Das dachte ich mir. Bei dem Föhn. Er muß dir auf die Nerven fallen. Deshalb rufe ich an. Mir geht es ausgezeichnet. Schon den ganzen Tag, denk mal. Nur der Regen ist fatal. Vor allem der Wind. Leidest du darunter?" - "Nein." - "Ja, so bist du. Ich bin ziemlich strapaziert. Das bringt die Hauptreisezeit mit sich. Zusätzlich habe ich in der Methodistengemeinde ausgeholfen. Deine Urte hat sich nicht geändert. Ich bin nämlich eben erst nach Hause gekommen. Durch die Wohnung bin ich noch gar nicht gegangen. Ich blieb in der Küche. Ich mußte an dich denken und ging ans Telefon ..."

Automatisch schaltete ich auf Vorsicht. "Das war eine gute Idee", erwiderte ich und konnte nicht verhindern, daß die Unruhe ihrer Stimme nach mir griff, mich einkreiste. Nachttiere fielen mir ein, unzählige Arten, die entweder huschen, schleichen oder gleiten. "Hörst du mir zu? Ich sagte, daß ich in der Küche an dich dachte. Wir waren wieder Kinder. Wenn mich grauste, rief ich dich an, erinnerst du dich? Meistens kamst du selbst ans Telefon. Du warst auch viel allein. Dir machte es nichts." - "So absolut möchte ich das nicht behaupten." - "Dir machte es nichts. Weißt du noch, daß du herüberstapftest, wenn ich darum bat? Du kamst nicht gern, ich merkte es dir an. Aber du kamst, damals."

Sie schwieg. Ihr Atem ging hastig, flach. "Es handelte sich um eine geringe Entfernung, zwei Häuser. Wollte ich heute kommen und führe sofort los, ich wäre erst zum Frühstück bei dir." - "Ich sah dich unter der Laterne auftauchen, mit einem Kopfkissen unter dem Arm. Du brachtest stets dein eigenes Kissen mit. Gib es zu." - "Nun ja, eine Kinderei ..."

"Du sahst winzig aus unter der Laterne. Beinahe war das Kissen größer als du. Einmal, als du partout nicht kommen wolltest, sagte ich, es säße jemand im Schrank und poche gegen die Tür. Da ranntest du los. Was hättest du gemacht, wenn es gestimmt hätte?"

Ich versuchte zu lachen. Es gelang mangelhaft. "Das weiß ich nicht. So etwas weiß man nie im Handlungsmoment. Ich meine, wir sollten jetzt schlafen. Außerdem führen wir ein Ferngespräch." - "Bleib noch. Leg nicht auf. Ich muß dir etwas sagen."

Diesen Satz hatte ich gefürchtet. Gefürchtet wie das Kippen ihrer Stimme, die sich verjüngte, zur Kinderstimme wurde; quengelig. Ich bin nicht die Telefonseelsorge, wollte ich rufen, doch sie sagte schon: "Ich bin nämlich nicht allein. Es ist jemand in der Wohnung. Ich merkte es beim Hereinkommen. Die Küchenschranktür war nicht geschlossen. Eine Matte lag schräg. Etwas wartet auf mich. Ich schlich zum Telefon. Hilf mir doch ..."

Es trieb mich hoch. Ich umklammerte den Hörer. Die Fingerknöchel traten hervor. Hysterikerin, wollte ich sie anschreien, betrink dich, schluck Psychopharmaka, renn zum Notarzt, aber laß mich in Ruhe, ich kann es nicht länger mitanhören, die vielen Jahre ...

"Hilf mir doch!"

Ich überlegte fieberhaft. Handelte sie bewußt heimtückisch? Wollte sie mir Angst einjagen? Ausgeschlossen. Sie unterlag einer ihrer in wechselnden Masken auftretenden Mitternachtsängste. Jedoch diesmal war es keineswegs gewiß. Sie wohnte in einem berüchtigt gewordenen Vergnügungsviertel. Tag für Tag passierten Überfälle, Einbrüche. Es konnte nicht schwerfallen festzustellen, daß sie berufstätig war und sich abends bei den Methodisten aufhielt. Sie ging sorglos mit Geld um, meist lag es lose im Besteckfach.

"Lauf auf die Straße und schnapp dir einen Polizisten." - "Nein, ich rühre mich nicht vom Telefon weg; es muß im Schlafzimmer sein ..."

Sie schluchzte. Das machte mich konfus. Ungewollt blickte ich zur Tür, die sich hinter mir befand. Bewegte sich die Klinke? Ich zwang mich zur Ruhe. Mit der Ruhe gewann die Überzeugung Kraft, daß sich kein Eindringling in ihrer Wohnung aufhielt, ebensowenig wie in meiner.

"Sag doch was", weinte sie. Ich sagte, daß sie den Hörer hinlegen solle, mit den Membranen nach oben, dann könne ich sie durch sämtliche Räume verfolgen, durch die sie nun gehen müsse. "Beim Verlassen eines Raumes schlägst du laut die Tür zu. Ohne die Küche, in der du schon warst, muß ich dich fünfmal hören. Wenn du in zirka vier Minuten nicht wieder am Telefon bist, rufe ich die dortige Polizei an. Und jetzt geh los." - "Du hörst mir zu, solange ich gehe?" - "Unbedingt!"

Ich preßte die Muschel ans Ohr. Blickte auf die Uhr. Ich hörte ihre sich entfernenden Schritte. Bald blieb es still. Sie ist auf dem Teppichbodenteil, dachte ich. Der Sekundenzeiger rannte. Die erste Tür knallte. Obwohl erwartet, zuckte ich zusammen. Die zweite Tür schlug zu. Das mußten Bad und WC gewesen sein; leicht zu überblicken. Während ich lauschte, fiel mir ein, daß ich die Rufnummer der Polizei in ihrer Stadt nicht zur Verfügung hatte. Falls die Auskunft besetzt oder überhaupt nicht besetzt war, wie sollte ich die Nummer herausbekommen? "Über die hiesige Polizeibereitschaft selbstverständlich, woher denn sonst", murmelte ich. Die dritte Tür klappte. Verhältnismäßig schnell die vierte, das ehemalige Kinderzimmer vermutlich. Jetzt mußte sie im Schlafzimmer sein, von dem sie meinte, daß dort ...

Ohne Schwierigkeiten versuchte ich ein Lächeln, denn gleich würde sie es geschafft haben, und ich mit ihr. Es summte in meinen Ohren, daß es schmerzte. In der Ferne, dumpf hörbar, stürzte etwas zu Boden. Das Summen wurde zum Dröhnen. "Urte", rief ich. "Urte!"

Viereinhalb Minuten waren vergangen. Langsam näherten sich Schritte dem Telefon. Wenn auch durch Hunderte Kilometer getrennt, wich ich in meiner Wohnung von meinem Telefon zurück. Der Wind drückte das Fenster auf. Der Regen rauschte. Die Panik packte mich.

"Urte!"

"Da bin ich", drang ihre Stimme mir ins Ohr. Es war ihre Erwachsenenstimme. Entspannt. Vollkommen entzerrt. Kein Anflug kindlicher Quengeligkeit. Einen Kleiderständer habe sie umgerissen, als sie sich bückte, erklärte sie. Er sei neu und stünde stets im Wege.

"Einen Kleiderständer", wiederholte ich. "Das ist lustig, darüber kann man lachen. Wahrhaftig."

"Siehst du, so bist du", stellte sie fest. Es klang ein bißchen pikiert. Sie empfahl mir, unverzüglich schlafen zu gehen, ich bliebe an sich zu lange auf. In ihrer Gegend habe es zu regnen und zu winden aufgehört, das wollte sie mir noch sagen ...

Ich kehrte zu meinem Weinglas zurück, trank den Rest in einem Zug. Füllte nach. Gut erinnerte ich mich, daß ich sie, während einer ihrer ersten Attackennächte, aufgefordert hatte, mich anzurufen, wann immer es notwendig sei - jederzeit. In dieser Stunde empfand ich die Ermunterung als leichtfertig.

Urte. Sie hatte auf dem Rasen neben mir gekauert. Im "Kobschen Garten" brannten die Bäume. Mit ruhigen Kinderfingern beträufelte sie ein Stück Zucker. Sie steckte es mir zwischen die Lippen. Es schmeckte widerlich. Sie sagte: "Lach doch mal."

Sigi Helgard: Die Albertus-Universität in Königsberg (Öl, 1999). Deuten die schwarzen Vögel auf nahendes Unheil?


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