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27.03.04 / Über Brücken

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. März 2004


Über Brücken
von Helga Steinberg

Seit jeher hatten Brücken auf ihn einen besonderen Reiz ausgeübt. Schon als kleiner Junge hatte er ehrfürchtig vor dem seltsamen Gerüst gestanden, das über den Bach auf dem Grundstück seines Großvaters führte. Man mußte schon sehr aufpassen, daß man nicht ins kalte Wasser fiel, wollte man diese Brücke benutzen. Ein falscher Schritt, und schon ... Großmutter konnte dann sehr böse werden, aber sonst liebte sie ihren einzigen Enkel über alles.

Als er älter wurde und sich mehr von seinen Freunden zurückzog, weil sie doch nur alberne Streiche im Kopf hatten, saß er immer häufiger auf seinem Steg. Ja, es war sein Steg, denn niemand anders sonst durfte ihn betreten. Dort träumte er dann von großen Brücken, die er selbst bauen wollte. Weit zogen sie über breite Ströme, über Abgründe und liebliche Täler. In Städten und Wäldern gab es sie, diese Verbindungen von einem Ort zum anderen. Sie hatten Anfang und Ende, führten von hier nach dort. Ingenieur wollte er werden, später, und Brücken bauen für die Menschen, das stand fest.

Als es dann endlich so weit war, und er einen Beruf wählen sollte, zog ein Krieg über das Land und begrub seine Kinderträume. Als gebrochener Mann kehrte er zurück und schlug sich mit Handlangerdiensten durch das Leben, half hier und dort beim Bauern aus und dachte kaum noch an seine Träume. Einsam war er geworden, einsam und hart gegenüber den Menschen. Auf seinen langen Wanderungen durch das Land sah er viele Brücken, von fremden Händen erbaut. Sie verbanden die entferntesten Orte miteinander, verbanden auch die Menschen, führten sie heraus aus der Einsamkeit.

Eines Abends kam er auf seiner Wanderung an einen unüberwindlich scheinenden Abgrund. In der Dunkelheit konnte er keine Brücke entdecken. Er legte sich schlafen und hoffte auf den nächsten Morgen. Mitten in der Nacht wachte er auf; deutlich drang ein Wispern an seine Ohren: "Steh auf und geh über die Brücke zu den Menschen!" Wie ein Schlafwandler erhob er sich und suchte in der Finsternis die Brücke. Er war fast sicher, daß über diesen Abgrund kein Weg führen konnte, zu sehr hatte er sich von den Menschen entfernt. Plötzlich aber spürte er Holz unter seinen Füßen. Eine Brücke! Langsam tastete er sich vorwärts. Bald würde er es geschafft haben, wieder bei den Menschen, nicht mehr einsam sein. Da trat sein Fuß ins Leere. Er fiel, er schwebte zurück in die unendliche Einsamkeit ...


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