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10.04.04 / Rettungsanker EU / Erweiterungsfeiern erreichen in Zittau den Höhepunkt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. April 2004


Rettungsanker EU
Erweiterungsfeiern erreichen in Zittau den Höhepunkt
von Martin Schmidt

Vom 30. April bis 2. Mai finden auch hierzulande Feiern anläßlich des Vollzugs der EU-Osterweiterung statt. Grund zur Freude gibt es - trotz aller Einwände gegen Details bei der Umsetzung. Immerhin werden einige unnatürliche Folgen der jahrzehntelangen Spaltung Europas, unter der unser Volk ja besonders zu leiden hatte, mit einem geschichtsträchtigen politischen Akt beseitigt.

In Görlitz plant die deutsche Verwaltung eine Lichtschau um Mitternacht und ein großes deutsch-polnisches Frühstück auf der Neiße-Stadtbrücke. Ähnliches geschieht im gleichfalls geteilten Frankfurt, wo man zu einem binationalen Oder-Brückenfest unter dem Motto "Aus Nachbarn werden Partner" einlädt sowie zu einem Feuerwerk mit Chormusik.

Als zentraler Ort der Feierlichkeiten ist das sächsische Zittau vorgesehen. Dort und im nahegelegenen "Dreiländereck", wo sich bundesdeutsches, tschechisches und polnisches Staatsgebiet berühren, geben sich am 1. Mai unter anderem Kanzler Schröder, der polnische Ministerpräsident Miller und dessen tschechischer Amtskollege Spidla ein Stelldichein.

Selbst "Kritisches" steht auf dem Programm mit einer Diskussionsrunde der Justizminister Sachsens, Polens und Tschechiens über die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität.

Außerdem soll eine Vereinbarung über die Schaffung einer dauerhaften Brückenverbindung über die Lausitzer Neiße am "Dreiländerpunkt" unterzeichnet werden, und man will den ersten Spatenstich für die regional bedeutsame grenzüberschreitende Verbindungsstraße B 178 feiern, die via Schlesien zur R 35 führt.

Bei all dem gibt man sich heimatbewußt, offenbart jedoch ein völlig unterentwickeltes Geschichtsbewußtsein: Die deutschen Namen der schlesischen und böhmischen Nachbarorte jenseits der Grenze tauchen in der Internetpräsentation ( www.sternstunden-europas.de ) nur ganz am Rande auf; von der bis 1945 rein deutschen Besiedlung der gesamten Region ist mit keinem Wort die Rede.

Zittau ist als Hauptort der deutschen Feierlichkeiten insofern gut gewählt, als sich in dieser landschaftlich reizvollen südöstlichsten Ecke des Freistaates Sachsen die Chancen und Probleme der EU-Osterweiterung besonders deutlich zeigen. Denn eines ist klar: Gerade hier muß sich Grundlegendes ändern, andernfalls ist das vor 760 Jahren gegründete Zittau langfristig zum "Sterben" verurteilt.

Der Bevölkerungsschwund, den die Stadt durch die Massenabwanderung gen Westen im Zuge der Wiedervereinigung erlebte, nimmt angesichts der vielen leerstehenden Häuser in der Innenstadt dramatische Formen an. Seit dem Umbruch hat sich die Einwohnerzahl von rund 50 000 auf nur noch 26 000 verringert. Die Arbeitslosenrate liegt bei 25 Prozent.

Ein Spaziergang durch das im doppelten Sinne alte Zentrum wird zur erschütternden Erfahrung: Junge Menschen sind Mangelware, die Atmosphäre wirkt gedrückt. Weitgehend vergeblich mühten sich die örtliche Verwaltung und die Wirtschaftsförderung Sachsen, die Vorteile herauszustellen, die die Oberlausitz und insbesondere das Dreiländereck mit Zittau für kleine und mittelständische Betriebe bieten: eine im Vergleich zu den Nachbarstaaten gute Infrastruktur, die Nähe zu den neuen Märkten im Osten und reichliche Mittelzuwendungen aus den EU-Strukturfonds (damit dürfte es bald vorbei sein).

Die fehlende Vitalität wird dem Besucher noch stärker bewußt, wenn er den direkten grenzüberschreitenden Vergleich mit einem Mittelzentrum wie Reichenberg (Liberec) in Böhmen anstellt. Dort tummeln sich junge Leute und strahlen Optimismus aus (in den Dörfern im einstigen Sudetenland sieht es freilich in jeder Hinsicht noch immer trostloser aus als in der mitteldeutschen Provinz).

Nicht nur für Zittau ist die Hoffnung auf einen regionalen wirtschaftlichen Aufschwung durch die EU-Erweiterung ein Rettungsanker in höchster Not. Ähnliches gilt für die benachbarten Kleinstädte Grottau (Hrádek) in Böhmen und Reichenau (Bogatynia) in Schlesien. Das 18 000-Einwohner-Städtchen Reichenau lebt zum Beispiel noch immer fast ausschließlich vom Braunkohletagebau "Turow" und einem 2000-Megawatt-Kraftwerk. Rund 9000 Menschen erwirtschaften dort ein Zehntel des polnischen Energiebedarfs. Im Rahmen der EU sind für diese noch aus sozialistischer Zeit stammende Monostruktur radikale Einschnitte absehbar.

Angesichts der geographischen Nähe und der gemeinsamen Probleme haben sich Zittau, Grottau und Reichenau 2001 zu einem "Städteverbund Kleines Dreieck" zusammengetan und vermarkten ihre insgesamt über 300 Hektar Gewerbeflächen gemeinsam.

Hinsichtlich der Textilindustrie hilft das Lohngefälle allen drei Partnern. Ungefähr jeder dritte deutsche Unternehmer in der Region, der im Textilbereich tätig ist, unterhält Kontakte nach Tschechien oder in die Republik Polen. Teile der Produktion befinden sich mittlerweile jenseits der Grenzen, wodurch die von vielen Mitbewerbern vorgemachte Produktionsverlagerung in die Billiglohnländer Ostasiens vermieden werden konnte.

Darüber hinaus arbeitet man mit dem in der ganzen Region einzigartigen Textilforschungsinstitut in Reichenberg zusammen, das noch von den Glanzzeiten der Tuchmacherei in der einst größten sudetendeutschen Stadt zeugt.

In diesen Tagen demonstriert das "offizielle" Zitttau Zuversicht, daß sich Vorhersagen über einen stark steigenden Ost-West-Handel bewahrheiten, und denkt an Prognosen wie jene über eine Zunahme des Güterverkehrs an den bundesdeutschen Ostgrenzen um 300-400 Prozent bis zum Jahr 2015.

Wenn Ökonomen wie Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchner Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo), ein "Wirtschaftswunder" bei den ostmitteleuropäischen EU-Neulingen erwarten, dann ist das allerdings auch für Kommunalpolitiker in der Oberlausitz eine durchaus zweischneidige Sache. Denn einerseits besteht die Hoffnung, die eigene Stadt könne an diesem Aufschwung teilhaben, andererseits fürchtet man einen Fortzug vieler weiterer mittelständischer Betriebe in den Osten, wo die Löhne noch auf längere Zeit niedriger bleiben werden.

Wie auch immer: Zum Monatswechsel ist erst einmal Feiern angesagt. Gerade Europa-Euphoriker sollten sich dann aber auch einen Gedanken bewußt machen, den Ralf Dahrendorf treffend beschrieben hat: "Wer sich in seinem Nationalstaat nicht wohlfühlt, kann auch kein guter Europäer sein. Wenn Europa zur Ersatzbefriedigung für das ungestillte Bedürfnis nach einer anerkannten staatlichen Einheit wird, dann muß es am Ende enttäuschen. Europaromantik ist kein Ersatz für Patriotismus."

 Reichenberg: Regiozentrum an der Grenze zur Lausitz und zu Schlesien


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