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17.04.04 / "Die Zeit ist absolut überreif" / Jürgen Liminski im Gespräch mit dem Demographieexperten und SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. April 2004


"Die Zeit ist absolut überreif"
Jürgen Liminski im Gespräch mit dem Demographieexperten und SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose

Unsere Kinder oder die der anderen" - auf diese knappe Formel brachte der große französische Demograph Alfred Sauvy die internationalen Zusammenhänge der sinkenden Geburtenzahlen schon in den 60er Jahren. Hierzulande diskutiert man seit Jahren über eine Neuregelung der Zuwanderung, aber die Demographie hat auch geopolitische Implikationen, die sich für den Westen insgesamt ungünstig entwickeln - je geringer die Geburtenzahlen sind, umso düsterer erscheint das Zukunftsszenario. Vor diesem Hintergrund muß man wohl auch die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes sehen: Das Jahr 2003 brachte erneut einen Rekord im Geburtendefizit und im Tiefstand der Eheschließungen. Damit setzt sich der Negativtrend der letzten Jahrzehnte fort. Zuletzt hatte es 1971 in Gesamtdeutschland einen Geburtenüberschuß (mehr Geburten als Gestorbene) gegeben. Da noch immer rund drei Viertel aller Kinder ehelich geboren werden, beeinflußt der Rückgang der Eheschließungen (im vergangenen Jahr nur noch 383.076) auch die Zahl der Geburten.

Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses und langjährigen Experten in Fragen der Bevölkerungspolitik Hans-Ulrich Klose (SPD) sind das alarmierende Zeichen. Hierzulande werde das Thema Demographie meist nur diskutiert in bezug auf die Sozialsysteme. Es fehlen Kinder, also auch künftige Beitragszahler. Auch in der Zuwanderungsdebatte tauchten Kinder auf, zum Beispiel beim Thema Nachzugsregelung. Die Franzosen, die Briten und die Amerikaner sähen da schon seit längerer Zeit größere Zusammenhänge. In Deutschland dagegen habe man nicht nur vergessen, über den Tellerrand zu schauen, sondern "überhaupt zu schauen. Erstens haben wir die Bevölkerungsentwicklung lange nicht zur Kenntnis genommen. Zweitens haben wir nicht erkannt, welche außerordentlichen nicht nur nationalpolitischen, sondern geopolitischen Konsequenzen diese Entwicklung hat." Längst sei "die Demographie ein geopolitischer Faktor", wie man an "ganz praktischen Beispielen in unserer Nähe und in weiter Entfernung" sehen könne. Klose verweist als aktuelles Beispiel auf den Kosovo-Konflikt. "Der Kosovo-Konflikt war vor langer Zeit ganz anders angelegt, weil es eine Mehrheit von Serben gab und eine Minderheit von Albanern. Das hat sich in weniger als 100 Jahren umgedreht, so daß die Albaner in die Mehrheitsposition gerieten und die Serben in die Minderheit. Die Konsequenzen dieser Entwicklung haben wir miterlebt. Ähnliches erleben wir heute in Mazedonien, wo wir hoffentlich klug genug sind, die Konsequenzen zu vermeiden, die es im Kosovo gegeben hat."

Diesen Trend könne man überall in der Welt verfolgen. Die ganze islamische Welt erlebe seit Jahrzehnten "ein außerordentlich starkes Bevölkerungswachstum. Südlich des Mittelmeers wird sich die Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren nochmals verdoppeln, und im Norden des Mittelmeers geht die Bevölkerung stark zurück." Auch Entwicklungsländer gerieten "wegen der Alterung in die Versorgungsfalle, zum Beispiel China". Dort werde nach der Einschätzung des Außenpolitikers und Demographieexperten "das nächste und größte Problem" entstehen. Denn dort werde "nicht zuletzt als Folge der Ein-Kind-Politik eine außerordentlich schnelle Alterung der Gesellschaft stattfinden mit enormen Problemen", weil gleichzeitig zumindest in den großen Städten Chinas die Familie in Auflösung begriffen sei, jedenfalls sei sie "nicht mehr das, was sie in früheren Zeiten war". Mit dem Verfall familiärer Strukturen, der auch in anderen Entwicklungsländern zu beobachten ist, entfällt aber auch die Grundlage für eine natürliche Altersvorsorge und Zukunftssicherung in diesen Ländern. Deshalb wird es, so sagen auch die bekanntesten Demographen in Europa wie die Professoren Birg und Schmid in Deutschland oder Dumont und Dupaquier in Frankreich voraus, einen verschärften Verteilungskampf auf globaler Ebene zwischen diesen Ländern und den Industrienationen um kapitalgedeckte Versorgungsanlagen und vor allem Energieressourcen geben. Das Fenster der Vorsorgeoptionen in diesen Ländern beginnt sich zu schließen. Klose hat darüber auch mit Politikerkollegen aus China gesprochen. "Sie kennen das Problem, haben aber noch keine Lösung. Eine ganz pessimistische Konsequenz könnte sein, daß es Unruhen in China gibt, und wenn dieser Gigant ins Trudeln gerät, dann haben wir alle ein Problem."

Klose ist ein moderater und besonnener Sozialdemokrat. Schon in seiner Regierungserklärung als Bürgermeister von Hamburg im Jahre 1974 hatte er auf die demographischen Probleme hingewiesen und dafür Schelte aus der Partei bezogen. Man solle doch nicht so schwarzmalen, hieß es damals. Ähnliche Töne waren jahrzehntelang aus der Union zu hören. Bei den Grünen feierte man eine Zeitlang sogar die Entwicklung und freute sich auf mehr Mulitkulti-Stimmung in Deutschland. Inzwischen greift die Ahnung um sich, daß die Zuwanderung keine Lösung ist. Wollte man damit das Geburtendefizit aufhalten oder einen für die Erwerbsbevölkerung halbwegs vernünftigen Generationenbaum aufrechterhalten, müßten bis 2050 rund 180 Millionen Zuwanderer nach Deutschland kommen - eine absurde Vorstellung. Das Abschotten in einer Festung Europa ist aber nach Meinung von Klose auch keine Lösung. Man brauche im Gegenteil "für ganz Europa rationale Zuwanderungsregelungen, damit nicht eine Entwicklung stattfindet, die absolut ungesteuert abläuft, denn dann könnte es zu erheblichen Problemen, ja auch zu gewalttätigen Konflikten kommen". In Deutschland rede man seit langem über eine Zuwanderungsregelung, "in Wahrheit hätte man sie schon vor 15 Jahren gebraucht, aber jetzt endlich sollten wir zu einem Abschluß kommen, der vielleicht beispielhaft für ganz Europa ist".

In wenigen Jahren werden in mehreren Großstädten Deutschlands die Nichtdeutschen die Mehrheit bilden. In diesem Zusammenhang steht auch die Türkeifrage. Kann Europa es sich leisten, die junge, dynamische Nation als Mitglied aufzunehmen? Auf diese Frage hat der SPD-Politiker im Gegensatz zu der rot-grünen Regierung, die es sich damit ziemlich einfach macht, keine abschließende Antwort. Bei dieser Thematik bewege man sich auf "unterschiedlichen Argumentationsebenen, außen- und sicherheits- und europapolitischen sowie nationalstaatlichen. Es gibt keinen Zweifel, daß der Sicherheitsgewinn durch die Mitgliedschaft einer demokratischen muslimischen Türkei erheblich ist, aber es gibt durchaus Fragen, ob Europa mit diesem großen Mitglied, dessen Bevölkerung stark wächst, nicht seine europäische Identität verliert. Welche Konsequenzen sich ergäben - das formuliere ich ausdrücklich im Konjunktiv -, wenn wir eine weitere starke Zuwanderung aus der Türkei hätten, ist schwer vorauszusagen." Allerdings könne man, so Klose, auch nicht voraussagen, daß sie stattfinde. Seiner Meinung nach sollte man "die Tür offen halten und zu gegebener Zeit entscheiden. Die Zeit ist meines Erachtens noch nicht gegeben."

Dagegen sei die Zeit überreif für eine große Bevölkerungsdebatte. Das Thema Bevölkerungspolitik habe immer noch den leichten Beigeschmack des politisch Unkorrekten. Aber diese Debatte "hätten wir längst gebraucht". Klose sieht die Entwicklung und das Verhalten auch im öffentlichen Diskurs mit Sorge. "Denn das, was hier schleichend seit Jahrzehnten stattfindet, so daß man es am Anfang nicht bemerkt hat, ist in Wahrheit eine gigantische Umwälzung, eine richtige Revolution, und wenn wir uns nicht damit beschäftigen, laufen wir angesichts der gegenwärtigen Entwicklungstrends in eine demographische Katastrophe hinein, von der ich nicht sicher bin, ob wir sie kontrollieren werden."

Fehlender oder zu viel Nachwuchs sind gleichermaßen gesellschaftsschädigend: Bevölkerungspolitik ist durchaus auch ein international zu betrachtendes Thema. Foto: Das Fotoarchiv


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