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24.04.04 / Eine Frage der Wahl

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. April 2004


Gedanken zur Zeit:
Eine Frage der Wahl
von Wilfried Böhm

Eine außergewöhnliche Situation ergab sich im Bundestag am 1. April 2004. Auf der Tagesordnung stand der von Abgeordneten aus allen Fraktionen eingebrachte Antrag: "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an." Beifall und Widerspruch kamen aus allen Fraktionen des Hauses. Einen wie auch immer gearteten "Fraktionszwang" gab es nicht.

Zuvor war interfraktionell vereinbart worden, für die Aussprache zwei Fünf-Minuten-Runden vorzusehen. Das geschah in der Form, daß aus jeder der vier Fraktionen je eine befürwortende und eine ablehnende Stellungnahme vorgetragen wurde. Der die Sitzung leitende Vizepräsident Hermann Otto Solms wies darauf hin, daß es Zustimmung und Ablehnung aus allen Fraktionen gebe, die Debatte wende sich "direkt an die Abgeordneten, ohne parlamentarische und fraktionelle Bindung". Bravo, kann man da nur sagen. Solche Debatten wünschen sich die Bürger öfter im "Hohen Haus"!

So sprachen für das "Wahlalter Null" aus der Unionsfraktion Johannes Singhammer (CSU), aus der SPD Rolf Stöckel, aus dem Bündnis 90/Die Grünen Antje Vollmer und aus der FDP Klaus Haupt. Gegen eine solche "revolutionär" zu nennende Änderung des Wahlrechts setzten sich ein: von der Unionsfraktion Ingrid Fischbach (CDU), von der SPD Barbara Wittig, vom Bündnis 90/Die Grünen Irmin-gard Schewe-Gerigk und von der FDP Daniel Bahr, außerdem die fraktionslose Abgeordnete Petra Pau (PDS).

Nicht nur die Form der Debatte war ungewöhnlich, sondern erst recht das Thema. Sollten die Befürworter des Antrags ihr Ziel erreichen, würde in Deutschland als erstem Land der Welt das Wahlalter auf den Tag der Geburt gesenkt, aber bis zur Volljährigkeit von der gesetzlichen Vertretung, in der Regel also von den Eltern, wahrgenommen. Sind doch 13,8 Millionen Angehörige des deutschen Staatsvolkes, nämlich alle Kinder und Jugendlichen, von diesem Wahlrecht ausgeschlossen, obwohl sie zweifelsfrei zum "Volk" gehören, von dem nach dem Grundgesetz "alle Staatsgewalt ausgeht". Ihre gesetzlichen Vertreter fällen alle öffentlich-rechtlichen Entscheidungen für sie und haben dabei die Pflicht, zum Wohle der Kinder zu entscheiden und zu handeln. Nach dem heutigen Wahlrecht hingegen wird ihnen diese Verantwortung nicht zugetraut.

Andere Staaten könnten allerdings Deutschland zuvorkommen, denn in Großbritannien und Australien gibt es schon seit langem Diskussionen im wissenschaftlichen Bereich, in Tschechien wird eine heftige Diskussion zwischen den Parteien darüber geführt und in Österreich hat die Forderung den Nationalrat erreicht. In Deutschland war das von den Eltern wahrgenommene Wahlrecht für Kinder in dem Vermächtnis des nach dem 20. Juli 1944 zum Tode verurteilten Carl Goerdeler enthalten, der nach dem Gelingen des Attentats auf Hitler Reichskanzler werden sollte. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die Diskussion erneut aufgenommen, und in der jüngsten Zeit wurde sie in weiten Kreisen der juristischen Wissenschaft positiv aufgenommen und diskutiert. So hielt es Altbundespräsident Roman Herzog, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, für überlegenswert, "wenn ein Elternpaar, das drei unmündige Kinder hat, insgesamt fünf Stimmen abgeben könnte. Über solche Vorschläge sollte man unvoreingenommen diskutieren."

Leider verzichteten die Befürworter des aktuellen Antrags im Bundestag sowohl auf die Darstellung der internationalen Diskussion als auch der geschichtlichen Entwicklung des Themas in Deutschland. Es ist zu hoffen, daß im Interesse der politischen Bildung der Abgeordneten diese Argumentation im Verlauf der parlamentarischen Beratungen ausführlich erfolgen wird. In der Bundestagsdebatte bezeichneten Gegner des "Wahlalters Null" dieses als eine "Privilegierung der Eltern" und als "modernes Klassenwahlrecht" - offensichtlich unfähig, die verantwortungstragende Aufgabe der Familie für die Zukunft des Volkes zu würdigen. Geflissentlich übersehen sie dabei die Funktionsfähigkeit des Generationenvertrages, den sie selbst im Alter als Grundlage des Sozialsystems in Anspruch zu nehmen gedenken.

"Ich hätte mich jedenfalls nicht durch meine Eltern vertreten lassen wollen", rief die grüne Abgeordnete Schewe-Gerigk vor dem Plenum des Bundestages aus und legte ihrem "Nein" damit persönliche Lebens- erfahrungen zugrunde. Zugleich meinte sie, Demokratie sei, "daß alle Menschen unabhängig von ihrer Lebensweise die gleichen Rechte haben", offensichtlich ohne zu bemerken, daß sie selbst die Kinder, also rund 20 Prozent der Bevölkerung, von diesem Recht weiterhin ausschließen will. Der Bundestag wird sich weiter mit dem Thema "Wahlalter Null" beschäftigen, das mitten in die Diskussion um die demokratische und demographische Bewältigung der Zukunft unseres Landes führt. Es ist darum ein ernstes Thema, das hohes Verantwortungsbewußtsein verlangt und vom Interesse der Öffentlichkeit begleitet sein sollte.


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