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01.05.04 / Atlantis an der Oder / Gedanken zur Erweiterung der Europäischen Union

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Mai 2004


Atlantis an der Oder
Gedanken zur Erweiterung der Europäischen Union
von Martin Schmidt

Der 1. Mai ist ein besonderes Datum, erst recht 2004. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist nun nicht mehr schwammige Vision, sondern politische Wirklichkeit - einschließlich ihrer Schattenseiten.

Diese werden gerade von nationalkonservativen Kreisen oft hervorgehoben und verbinden sich mit anti-polnischen oder anti-tschechischen Ressentiments. Spiegelbildlich gilt dies für die polnische und tschechische Rechte. Hinzu kommt der bei uns allgemein zu beklagende Verlust des mitteleuropäischen Bewußtseins als Folge der Blockteilung Europas und der geistig-wirtschaftlichen Einverleibung (West-) Deutschlands in Westeuropa und den "Westen".

Die durch die EU-Erweiterung entstehenden enormen zusätzlichen Probleme für den Arbeitsmarkt sollen hier nicht wegdiskutiert werden; sie wurden im Rahmen dieses Ressorts der Preußischen Allgemeinen in der Vergangenheit immer wieder angesprochen. Gleiches gilt für den künftig noch verstärkten Kriminalitätsimport (ein erheblicher Teil der aus Ostmitteleuropa zu uns drängenden Mafia-Strukturen hat seine Wurzeln allerdings östlich der neuen EU-Grenzen). Doch diese Schwierigkeiten bilden nicht den Kern der deutschen Misere. Denn unsere größten Probleme sind hausgemacht: die schwindende Kinderzahl der Deutschen, die Millionen Ausländer aus völlig anderen Kulturkreisen, die verantwortungslose Politiker ins Land gelassen haben, die in langen Wohlstandsjahren verfestigten Ansprüche und Bequemlichkeiten, das strukturelle "Ausbluten" der mitteldeutschen Bundesländer und nicht zuletzt ein tiefsitzender Pessimismus, der es - ergänzt um den jede Dynamik bremsenden bevölkerungspolitischen Niedergang - sehr schwer macht, sich selbst am sprichwörtlichen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Die am 1. Mai durch die EU-Erweiterung wiederhergestellte europäische Normalität sollte weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance gesehen werden. Denn aus dem Osten könnte nicht nur eine neuerliche Welle der Kriminalität zu uns herüberschwappen, sondern ebenso der dort verbreitete Geist eines politisch-wirtschaftlichen Aufbruchs, der bemerkenswerte Reformerfolge ermöglichte.

Nachahmenswert ist auch das in Ostmitteleuropa vergleichsweise ausgeprägte Nationalbewußtsein und die während der Sowjetzeit verinnerlichte Abneigung gegen jeden überzogenen Zentralismus. Letztere dürfte auch den fanatischsten Brüsseler Bürokraten bald klar machen, daß ihre Allmachtsphantasien ins Reich der politischen (Alp-) Träume gehören.

Die ostdeutschen Vertriebenen sollten die Erweiterung schon insofern begrüßen, als ihre Heimatgebiete dadurch wieder enger mit dem restlichen Mitteleuropa verbunden werden. Überdies gibt es jetzt das EU-vertraglich verbürgte Recht auf Ansiedlung.

Wohl nirgendwo sonst werden die aus deutscher Sicht eben auch vorhandenen erfreulichen kulturpolitischen Perspektiven derart deutlich wie am Beispiel Niederschlesiens, wo laut Volkszählung von 2002 heute nur noch 2600 Deutsche leben. Wie umfassend sich dort nach dem Untergang des kommunistischen Imperiums die Haltung der zugezogenen Polen zur deutschen Geschichte des Landes verändert hat, davon können Leute wie Alexander Ilgmann berichten. Der 1971 in München geborene Anwalt mit teilweise schlesischen Familienwurzeln zog nach Abschluß seines Studiums der Rechtswissenschaften und der Slawistik in Freiburg, Prag und Berlin im Sommer 2003 mit seiner polnischen Frau und dem kleinen Kind nach Breslau. Dort konnte er im Dezember offiziell den Betrieb der ersten deutschen Anwaltskanzlei in der schlesischen Hauptstadt seit Mai 1945 aufnehmen.

Dieses Unterfangen war für den jungen Mann reizvoller, kostengünstiger und aussichtsreicher als der Aufbau einer Kanzlei hierzulande, wo es von Juristen nur so wimmelt. Ursprünglich stand auch Warschau zur Debatte, aber dort machen längst große Kanzleien das Geschäft unter sich aus und betreuen die in die Hauptstadt naturgemäß besonders stark vertretenen ausländischen Investoren. Außerdem konnte Warschau keinem städtebaulichen Vergleich mit dem "wunderschönen" Breslau standhalten.

Nicht zuletzt versprach die schlesische Metropole wegen ihrer Vergangenheit und ihrer Grenznähe die Aussicht auf ein Leben in beiden Kulturen, also der polnischen wie der deutschen. Die in Warschau geborene Ehefrau kommentierte die Entscheidung für Breslau denn auch mit den Worten: "Breslau? - Das ist doch so deutsch...!"

Der mutige Schritt des jungen Deutschen wurde zwar durch Schikanen der örtlichen Verwaltung erschwert, jedoch betont Ilgmann, daß der ausufernde polnische Bürokratismus alle Bürger und insbesondere auch Polen treffe.

Ansonsten macht er ausgesprochen gute Erfahrungen und stößt auf jede Menge Wohlwollen. Gleiches gilt für seine polnischen Anwaltskollegen. Sicherlich kam ihm sein fast akzentfreies Polnisch zugute. Derzeit leistet Alexander Ilgmann sogar mehr polnischen Investoren im Bundesgebiet Rechtsbeistand als deutschen Unternehmern in der Republik Polen.

Der Mythos von den "wiedergewonnenen Westgebieten" findet in dem von der Vertreibung nach Kriegsende fast völlig entvölkerten Niederschlesien kaum noch Gläubige. Statt dessen haben sich sehr viele, insbesondere jüngere Nachkommen der polnischen Zuwanderer auf die Suche nach der regionalen Identität begeben - und stoßen dabei zwangsläufig auf das deutsche Erbe Schlesiens.

Bedeutende Bauwerke, die vom deutschen Gesicht der Region zeugen, werden, sofern es die begrenzten finanziellen Möglichkeiten erlauben, originalgetreu instand gesetzt. Zweisprachige Gedenktafeln erinnern an Eichendorff, den "Turnvater" Jahn oder die Gebrüder Hauptmann.

Der Blick auf die Geschichte gewinnt an Objektivität, und polnische Wissenschaftler bilden längst die Mehrzahl der ernstzunehmenden Schlesien-Forscher, während von den bundesdeutschen Universitäten nur wenig nachkommt.

Gerade jüngere Polen zeigen sich gegenüber den ostdeutschen Vertriebenen aufgeschlossen und interessiert. Man fühlt sich, zugespitzt formuliert, vor allem als "Niederschlesier" und erst danach als Pole. Abgesehen von der benachbarten Wojewodschaft "Lebuser Land" weist der Bezirk Niederschlesien mit 49,4 Prozent landesweit die beste Versorgung der Schulen mit Deutschunterricht auf.

Die Abneigung gegen den "Warschauer Zentralismus" ist sehr weit verbreitet. Und der am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getretene neueste Schritt der polnischen Regionalreform, wonach die Wojewodschaften über 50 Prozent der vor Ort erwirtschafteten Steuergelder selbst verfügen können (bis dato ging zunächst alles nach Warschau), gibt Anlaß zu regionalistischer Zuversicht.

Breslau und das Hirschberger Tal (siehe OB 25 u. 50/2002) sind Musterbeispiele für die Wiederentdeckung schlesischer deutscher Kultur. Im noch immer bzw. wieder sehenswerten Breslau gibt es inzwischen eine funktionierende evangelisch-lutherische deutsche Gemeinde, die heimatverbliebene alte Schlesier, etliche Volksdeutsche aus Mittelpolen und aus dem Bundesgebiet zugezogene deutsche Neubürger vereint.

Die vielen in der Stadt lebenden Nachfahren von Vertriebenen aus dem einstigen Ostpolen, speziell aus Lemberg, haben ein offenes Herz für die jahrhundertelange Historie dieser einst reichen Handelsstadt und deren bauliche Zeugnisse. Sie identifizieren sich mit den deutschen Spuren, pflegen diese nicht selten liebevoll und verstehen sie als Baustein einer neuartigen schlesischen Identität, getragen von hier aufgewachsenen Polen.

Insbesondere der im alten Glanz erstrahlende Breslauer Ring mit seinen prachtvollen Bürgerhäusern veranschaulicht die Dynamik dieser Entwicklung.

In Breslau wird dem bundesdeutschen Besucher mehr als an jedem anderen Ort der früheren Ostprovinzen klar, daß eine Anknüpfung an die nach 1945 über Dekaden hinweg verschwiegenen bzw. getilgten jahrhundertelangen Traditionen nicht vom deutschen Reststaat ausgehen kann.

Die Vertriebenen selbst sind heute in ihrer großen Mehrheit zu alt und geistig zu unbeweglich, um sich noch auf das Abenteuer eines Neubeginns in der alten Heimat einzulassen. Ihre Kinder und Kindeskinder haben leider in der Regel keinen tieferen Bezug zu den Herkunftsorten der Vorfahren. Die landsmannschaftlichen Organisationen leiden ebenso an den Folgen der Überalterung; zu wenige Heimatkreisgemeinschaften leisten vor Ort zukunftsträchtige Arbeit.

Man bedenke außerdem, daß es der Bundesrepublik Deutschland an bevölkerungspolitischer Dynamik, Wirtschaftskraft und von Nationalstolz getragenem Optimismus fehlt, um kraftvoll nach Osten auszustrahlen.

So bleibt nur eine Hoffnung, wie das ostdeutsche Erbe für die Zukunft lebendig erhalten werden kann (eine Zukunft, die dann vielleicht auch im deutschen Staatsgebiet ein breites Interesse an der eigenen Kulturgeschichte in ihrer Gesamtheit hervorbringt): das Entstehen eines ausgeprägten Regionalismus unter den heute vor Ort wohnenden Polen, geprägt durch die Sympathie für das deutsche Erbe und die Deutschen.

Tatsache ist jedenfalls, daß die Suche nach jenem "Atlantis des Nordens", wie der polnische Schriftsteller Kazimierz Brakoniecki die alten ostdeutschen Gebiete mythologisierend genannt hat, weitergeht und hier kein "Ende der Geschichte" absehbar ist. Von Atlantis sprach Brakoniecki deshalb, weil dieses Land "untergegangen und nicht untergegangen ist, vergangen und nicht vergangen".

Neubeginn in Niederschlesien: Familie Ilgmann vor der ersten deutschen Anwaltskanzlei in Breslau seit Mai 1945 und die kriegszerstörte schlesische Hauptstadt im Jahr 1954 Fotos: Schlesien heute (oben)/Archiv (unten)


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