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01.05.04 / Hubert hing im Baum

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Mai 2004


Hubert hing im Baum
von Ingrid Cambou

Ein Urlaub auf einem Bauernhof auf dem Lande ist idyllisch und angenehm, vor allem, wenn der Bauernhof das eigene Elternhaus ist. Man muß nur aufpassen, daß man aller Arbeit sorgfältig aus dem Wege geht. Vor allem wenn man einen Bruder hat, dem der Urlauber ein Dorn im Auge ist und der immer eine kleine Beschäftigung für ihn bereit hält. Aus diesem Grund versuchte Hubert beim Anblick seines Bruders Heinrich schnell einen Haken zu schlagen, aber es war zu spät. Der hatte ihn schon erblickt und rief erfreut: "Mensch, Hubert, das ist aber ein Glück, daß ich dich treffe!"

"Wieso diese Begeisterung?" fragte Hubert mißtrauisch, "wir haben uns doch eben erst beim Frühstück gesehen."

"Ja, aber beim Frühstück habe ich noch nicht daran gedacht, daß der Schimmel heute zum Hufschmied muß", gestand Heinrich. "Ich dachte, du könntest ihn hinbringen."

"Den Schimmel?" sagte Hubert entrüstet. "Den bring mal schön selber zum Schmied. Ich werde meinen Urlaub doch nicht diesem bockigen Biest opfern!"

"Ach, der Schimmel ist nicht mehr halb so bockig wie früher", redete Heinrich seinem Bruder gut zu. "Und außerdem ist es doch nur zu deinem Vorteil, wenn du zum Schmied reitest. Hoch zu Roß hast du doch schon immer eine gute Figur gemacht, da kannst du jetzt richtig Eindruck schinden."

"Für wen soll ich denn Eindruck schinden?" fragte Huber spöttisch. "Für die Hühner, die hier rumlaufen?"

"Ja sag mal, hast du denn nicht gesehen, daß die Trudi vorhin zu unserer Schwester gekommen ist? Sie sitzen jetzt beide oben im Nähzimmer, du weißt, von da aus hat man einen guten Blick in den Hof."

Ach, die reizende Trudi war gekommen! Hubert schaute überlegend zu den Fenstern hoch. Dann beschloß er, Trudi zuliebe einen Teil seiner kostbaren Urlaubszeit dem biestigen Schimmel zu opfern. "Ich will mal nicht so sein und dir die Arbeit abnehmen", sagte er gnädig. "Aber vorher muß ich mich erst noch umziehen."

Er ging ins Haus, und als er wenig später wiederkam, hatte er seine Reithosen an und war ausgesprochen gutgelaunt. Sein Bruder führte den Schimmel aus dem Stall, und Hubert saß auf und ritt froh und frei zum Tore hinaus. Aber die heißverehrte Trudi sah nichts von diesem stolzen Abgang, denn sie war in ihre Näharbeit vertieft. Dafür aber wurde sie Zeugin seiner Rückkehr. Und was für eine furiose Rückkehr das war!

Auf dem letzten Stück der Landstraße ging dem Hubert der Schimmel durch und raste in einer großen Staubwolke und mit hämmernden Hufen unüberhörbar auf das Gehöft zu. Und Hubert saß nicht mehr stolz hoch zu Roß, sondern hatte Mühe, sich am Pferd festzuhalten. Der Schimmel raste durch das Hoftor auf seinen Stall zu. Dabei nahm er keine Rücksicht auf seinen Reiter und raste unter dem einzigen Baum hindurch, der auf dem Hof stand. Hubert mußte schnell handeln, wenn er nicht vom Pferd gerissen werden wollte. Er griff kurzentschlossen in die Äste und hielt sich am Baum fest. Und während der Schimmel krachend durch die angelehnte Stalltür raste, hing er dekorativ zwischen Blättern und Zweigen.

"Warte Hubert, wir helfen dir!" rief Trudi ihm zu.

Hubert hörte zwar die Botschaft, aber er warf keinen Blick zum Fenster hinauf. Wortlos schwang er sich aus dem Geäst nach unten, verschwand im Haus und ward für den Rest des Tages nicht mehr gesehen.


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