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08.05.04 / Doch ein schöner Tag

© Preußische Allgemeine Zeitung / 08. Mai 2004


Doch ein schöner Tag
von Renate Dopatka

Apathisch starrte Irene zur Zimmerdecke hoch. Schon morgens beim Wachwerden dachte sie mit Unbehagen an den vor ihr liegenden Tag, an die zäh dahinfließenden Stunden, die irgendwie ausgefüllt werden mußten. Seit sie vor zwei Monaten ihren Abschied als Lehrerin genommen hatte, schien ihr Leben plötzlich an Sinn und Freude verloren zu haben. So sehr sie sich auch zu beschäftigen suchte - das Gefühl, im Grunde nicht mehr gebraucht zu werden, lastete wie ein Alpdruck auf ihr. Mit leisem Seufzen schälte sich Irene aus den Federn und tappte zum Fenster. Fahles Frühlicht sickerte durch die Jalousien. Ein neuer Tag begann, und sie wußte nicht, was sie mit ihm anfangen sollte.

Während sie die Rolläden hochzog, spürte sie so etwas wie Bitterkeit in sich aufsteigen. Was nützte es, wenn man sich schon Monate zuvor Gedanken über die Zeit nach der Pensionierung machte und alle möglichen Aktivitäten plante, wenn einem Lustlosigkeit und Niedergeschlagenheit dann dermaßen zusetzten, daß man sich zu nichts mehr aufraffen konnte?

Erst jetzt, im Ruhestand, wurde ihr so richtig bewußt, wie einsam sie trotz ihres großen Bekanntenkreises eigentlich war. Vielleicht wäre ihr der Abschied von der Arbeit leichter gefallen, wenn jemand dagewesen wäre, der sie aufgefangen, der das plötzliche Vakuum in ihrem Leben mit seiner Liebe peu à peu wieder aufgefüllt hätte? Aber sie hatte sich damals ja ganz bewußt für den Beruf und gegen eine eigene Familie ausgesprochen! Mit Freude und Engagement und unbelastet von privaten Sorgen Lehrerin zu sein - dieser Maxime war sie 40 Jahre lang treu geblieben. Bereut hatte sie ihre Entscheidung eigentlich zu keiner Zeit. Selbstmitleid war also völlig fehl am Platz! Nichtsdestotrotz hingen ihre Mundwinkel traurig herab, als sie beim Frühstück saß und ohne rechten Appetit in ihrem Müsli stocherte.

Ihr Blick ging nach draußen. Der Tag versprach recht schön zu werden. Duftige Bläue schwebte über den Dächern der Stadt, und obwohl es noch ziemlich früh war, brannte die Sonne schon heiß ins Zimmer herein. Einer weichen Regung gehorchend, öffnete Irene das Fenster und hielt ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. War es das Licht? Der zärtlich kosende Windhauch? Die von Blütenduft geschwängerte Morgenluft? Welcher Sinnesreiz auch immer der Auslöser war - Irene zog es plötzlich mit aller Macht ins Freie. Einkaufen mußte sie ohnehin, aber diesmal sollte es nicht nur bloße Pflichterfüllung sein.

Den Weidenkorb unterm Arm, bummelte Irene ein knappe Stunde später langsam über den Wochenmarkt. Bereit, diesen Tag voll und ganz auszukosten, ließ sie sich umfangen vom bunten Angebot der Händler, von Menschengewimmel und Stimmengewirr. Sie hatte Zeit - ein Geschenk, das sie für wertlos erachtet hatte. Als ihr Korb mit Obst und Gemüse und einem prächtigen Strauß Blumen gefüllt war und die Sonne bereits die Kirchturmspitze erreicht hatte, verspürte sie Hunger. Doch statt nach Hause an den Herd zu eilen, um sich eine vernünftige, vollwertige Mahlzeit zu bereiten, schob Irene alle Ernährungsprinzipien beiseite und kaufte sich eine Bratwurst. Dermaßen bestückt, schlenderte sie durch die Fußgängerzone. Vor dem Schaufenster einer Buchhandlung blieb sie lange stehen. Nicht nur die Vielzahl an Neuerscheinungen erregte ihr Interesse, sondern auch das eigene Spiegelbild. Die Wangen gerötet, das halblange Silberhaar vom Winde "verweht", blickte ihr da eine sehr entspannt wirkende Frau entgegen.

"Guten Appetit, die Dame!" hörte sie plötzlich jemanden rufen. Sie schaute in die lächelnden Augen eines älteren Herrn, der jetzt seinen Hut lüftete und ihr im Vorübergehen fröhlich zunickte. Sie kannte den Mann nicht, aber sein Gruß tat ihr wohl.

Nachdenklich setzte sie ihren Weg fort. Ja, alles war möglich, alles konnte geschehen, wenn man sich nur öffnete. Sie hob den Kopf, holte tief Luft. Nichts hatte sich seit gestern verändert. Es war alles beim alten - doch ihre Einstellung zu diesen Dingen war nicht mehr dieselbe. Was auch immer die Ursache sein mochte - Irene spürte Frieden und Leichtigkeit in sich und die Bereitschaft, "Ja" zu sagen zu diesem neuen Lebensabschnitt.


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