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22.05.04 / Eigene Wege gehen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Mai 2004


Eigene Wege gehen
von Christel Bethke

Der Vater kann doch nicht alleine bleiben. Wer soll ihn denn versorgen? Mutter hat alles immer für ihn getan. Vielleicht wäre ,Betreutes Wohnen' für ihn das richtige. Hauptsache, er faßt es nicht falsch auf und denkt, wir wollen ihn abschieben."

Die beiden Schwestern erörtern die Zukunft des Vaters. Daß er die Mutter überleben würde, hatte kein Mensch erwartet. So ist das nun mal, der Mensch denkt ...

Thomas ist dazugekommen, flegelt sich an den Tisch und hört mit halbem Ohr auf das, was Mutter und Tante besprechen. Das andere halbe hört auf das, was aus dem Knopf im Ohr tönt. "Ich weiß gar nicht, was ihr wollt", schaltet er sich plötzlich in das Gespräch ein. "Opa kann doch machen, was er will, so klapprig ist er ja nun noch nicht."

Und was macht Opa? Erst wußte der das selbst nicht. Kam sich wie ein Verschütteter vor, den man schon aufgegeben hatte und der nun neu zu leben lernen sollte. Er machte sich mehr Gedanken über das vergangene Leben als über das zukünftige. Sprach mit Elfriede darüber in Gedanken und entschuldigte sich bei ihr, als er anfing, die Puppen einzusammeln, die seit Jahrzehnten die Wohnung besetzt hielten und immer mehr wurden. Dachte dabei an die Kodderpuppen seiner kleineren Schwestern, die sie heiß geliebt hatten. Alles unvergessen. Und er hatte mitgemacht. Schenkte Elfriede zu Festtagen die Puppen, die sie schon gekauft hatten. Die Puppen kamen jetzt in zwei Kartons. Er hatte auch schon eine Bestimmung dafür ...

Dann hatte er sich über die Bilderwand hergemacht: Kinder und Enkelkinder in allen Größen und Lebensaltern. Hochzeitsfotos, ein Meter im Quadrat. Jedes davon betrachtete er noch einmal liebevoll und stapelte sie auf. An die leere Wand heftete er ein riesiges Poster, das einen See zeigte, von Büschen und Bäumen umstanden, im Schilf ein Boot. Über allem der vertraute östliche Himmel.

Er war 18, als er eingezogen wurde und 26, als der Krieg für ihn zu Ende war. Kein Elternhaus hatte ihn erwartet, nichts war mehr wie vorher. Da war es gut gewesen, Elfriede kennenzulernen. Die wußte, wo es langging, und er hatte das ganz in Ordnung gefunden. Natürlich hatte er sie geliebt, und mit Freuden hatte er gearbeitet, viel gearbeitet, sogar zuviel, wie er nun im nachhinein meinte. Zu spät. Sie machte den Finanzminister, verstand das auch, bestand auf dem Kauf der Wohnung, und als die Töchter dann aus dem Haus waren, war sie es, die die Reisen plante, die sie durch die Welt geführt hatten. Manchmal wußte er gar nicht, wohin die Reise gehen würde. Ob sie ihn sich anders gewünscht hätte?

Wenn Familienfeiern waren, "überkam" es ihn manchmal, wie es hieß. Dann zog er sich in den Keller zurück, holte seine Quetschkommode vor und begann Melodien zu spielen, die den kleinen Thomas, der dem Großvater scheu gefolgt war, zum Weinen brachten.

Ein einziges Mal hatte seine Frau ihm die Freude gemacht und war mit ihm zusammen in die Heimat gefahren. Während er dort sehr glücklich war, hatte sie eine Magen-Darm-Verstimmung bekommen und war froh gewesen, als es wieder nach Hause ging.

Die Schwestern rufen den Vater an und wollen mit ihm zusammen zum Friedhof. Er lehnt ab, entschuldigt sich damit, daß er schon dort gewesen sei. Auf ihre Nachfrage hören sie, zum Saubermachen habe er jemand "genommen". Auch mit dem Kochen käme er klar. Manchmal ginge er essen, manchmal bereite er sich selbst etwas zu. Schließlich sei er während des Krieges auf einem Schiff gewesen, habe gelernt, Ordnung zu halten. Die Wäsche? Auch das kann er. Wozu gibt es denn den Fortschritt einer Waschmaschine. Er spricht so bestimmt und überzeugend, daß sich die Frage nach "Betreutem Wohnen" nicht mehr stellt. "Vielleicht heiratet Opa ja noch mal", meint der Schlaumeier Thomas, "es müssen ja nicht immer nur Prominente sein, die in dem Alter noch mal eine Frau nehmen." Er jedenfalls findet den Alten "astrein" und fügt hinzu: "Vielleicht lebt Opa ja jetzt erst richtig." Mutter und Tante sehen sich an, lachen verlegen. Ob der Klugscheißer recht hat?

Hat Thomas recht? Fragen wir den Alten. Der hat seine Schmierstiefel aus dem Keller geholt, ist schon früh unterwegs und will die Sonne über den Feldern vor der Stadt aufgehen sehen. Er hat das alte Rad in Zahlung gegeben und sich ein neues gekauft, mit dem er viel unternimmt. Langeweile kennt er nicht. Er macht sogar Pläne, erlebt diese Zeit als geschenkte. Etwas, was er als junger Mensch nicht durfte, kommt nun im Alter wie eine Art von Bewährung auf ihn zu. Hatte nicht eben doch alles seine Zeit, wie es heißt? Das alles fiel ihm durchaus nicht leicht, und es gab viel zu bedenken. Der erste Schritt aber war gemacht. Er mußte mal mit Thomas reden, vielleicht würde der ihn bei seinen Plänen unterstützen, sogar mitmachen, beim Verteilen der Puppen helfen.

Einsamkeit im Alter: Neue Wege zu gehen eröffnet auch neue Horizonte. Foto: Bahrs


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