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22.05.04 / Jeder hat seine Geschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Mai 2004


Jeder hat seine Geschichte
von Werner Hassler

Doktor Eicken war aufgestanden, drehte seine randlose Brille in den Händen und trat vor den Schreibtisch. "Da hilft alles nichts, Fräulein Gebert, die Geschwulst auf Ihrem linken Schulterrücken muß entfernt werden! Zwei, drei Tage Krankenhausaufenthalt, und die Sache ist vergessen!"

Karin traf es viel härter, als er es annehmen konnte. Ihre Lippen bebten. Mühsam brachte sie hervor: "Und - wird es schlimm sein? Und, ich meine, ob ... eine Narbe?" Fast flehentlich hingen ihre Blicke an Doktor Eickens Gesicht. "Da machen Sie sich mal keine Sorgen! Zwar ist die Geschwulst schon recht groß, und ganz ohne Narbe wird es wohl nicht abgehen. Aber da gibt es mittlerweile solch feine Methoden ..." Den Rest vernahm Karin Gebert aus weiter Ferne, und Sekunden später schien sogar ein Tränenschleier ihr die Augen zu verhängen. Karin war mit ihren 22 Jahren gewiß genauso eitel wie viele hübsche Altersgenossinnen. Wie gerne trug sie schulterfreie Kleider, in denen ihre grazile Figur besonders gut zur Geltung kam. Und jetzt sollte diese makellose Schulter von einer Narbe verschandelt werden? Gerade jetzt zu Beginn der schönen Sommerzeit?

Ziellos trug sie ihren Kummer durch die Gassen der Altstadt, näherte sich schließlich zögernd einem Straßencafé. Ja, ein Getränk würde ihr jetzt guttun. Dort an jenem Tisch war noch ein Platz frei. Nur ein junger Mann in einem bunten T-Shirt mit lässig übergeworfener Sommerjacke, unter der zwei kräftige Arme sich sehen ließen, saß am Tisch. Karin ärgerte sich schon, Platz genommen zu haben, denn Gesellschaft meinte sie im Augenblick nicht vertragen zu können. Aber sonst war kein freier Stuhl zu finden gewesen.

"Einen Kaffee - und, und ein Kirschwasser!" rief sie der Bedienung zu. Dann nagte sie an der Oberlippe und schien wieder in trüben Gedanken zu versinken. Der junge Mann am Tisch räkelte sich auf seinem Stuhl und begann mit einem aufmunternden Lächeln: "Hm, das schmeckt - nicht nur an so einem Tag wie heute!" Feindselig blickte Karin zu ihrem Tischnachbarn hinüber. Der aber verstärkte sein Lachen. "Heut mögen Sie's wohl nicht gern fröhlich? Mit dem linken Bein aufgestanden? Oder gar Kummer? Sonst würden doch diese hübschen blauen Augen nicht gar so traurig dreinblicken!" Aha, dachte Karin, die Anmacher-Masche. Aber nicht mit mir! Sie mußte wieder an Doktor Eicken denken und sah schon die häßliche Narbe vor Augen. "Herrje", lachte er wieder, "so ein schöner Tag! Sehen Sie nur, wie fröhlich alle Menschen sind! Das ist Leben - und so mag ich es. Die milde Luft, der Sonnenschein - warum sind Sie denn gar so traurig heute?"

"Nichts ist traurig", sagte sie hastig, "aber es ist auch noch lange nicht alles schön, nur weil die Sonne scheint!" Er deutete nach oben. "Nicht jede Wolke erzeugt ein Gewitter." - "Ach nee, sehr sinnig", kam es ironisch zurück. "Nein, Shakespeare!" Er lachte wieder. "Aber sehen Sie doch das bunte Leben hier! Regt das nicht an, es den anderen gleichzutun? Ich mag es so - dieses Leben. Sie schauen aber drein, als warte an der nächsten Straßenecke schon ein Polizist mit einem Strafzettel auf Sie!"

Trotzig warf Karin den Kopf in den Nacken. "Ihre Stimmung und Ihr Leben mögen nett sein. Vielleicht habe ich aber weniger Grund dazu, das meine nett zu finden. Wer weiß, was auf mich wartet!" Der junge Mann beugte sich nach vorne. "Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Das ist nicht meine Art!" - "Das sind Sie bereits", grollte Karin und schob einen Geldschein unter die Kaffeetasse.

In diesem Augenblick kam eine Frau, die einen leeren Rollstuhl vor sich her schob, um die Ecke. Sie hielt am Tisch. Mit kräftigem Armdruck schwang sich der junge Mann in den Rollstuhl, und die Frau bettete seine leblosen Beine unter eine Decke. Dann lächelte sie Karin zu: "Finde ich nett, daß Sie meinem Sohn etwas Gesellschaft geleistet haben!" Beschämt ließ Karin den Kopf sinken. Wie dumm sie doch eben dahergeredet hatte. Wie gerne hätte sie jetzt seine Geschichte gehört. Aber auch ohne diese Geschichte wollte sie nun nicht mehr an diesen lächerlichen Kratzer auf ihrer Schulter denken!


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