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22.05.04 / "Er pfeift auf dem letzten Kalmus" / Eine Pflanze in Natur, Literatur und Medizin

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Mai 2004


"Er pfeift auf dem letzten Kalmus"
Eine Pflanze in Natur, Literatur und Medizin

Wer seine Heimat in Ostpreußen hat, weiß, daß Kalmus eine Pflanze ist. Im alten Königsberg gehörte das Kalmusausbieten durch die Jungen zu den bekanntesten Straßenrufen: "Kauft Kalmus! Drei Bund für einen Pfennig!" Auf dem Lande wuchs er quasi vor der Haustür; allgegenwärtig am Wasser. Allgegenwärtig waren die Sprüche, in denen Kalmus vorkam, etwa: "Heute geht alles in'n Kalmus" (heute mißglückt alles), "Er pfeift auf dem letzten Kalmus" (er ist elend, krank, steht vor der Pleite), "Eck war die watt opp'm Kallmos piepe" (... wenn ein Wunsch versagt wird). Auch oder gerade in Ostpreußen, im Uferbereich von Seen und langsam fließenden Gewässern wächst der Kalmus noch heute. Die schwertförmigen Blätter entspringen dem Ende eines verzweigten Wurzelstockes. Die Pflanze wird einen halben bis anderthalb Meter hoch und blüht im Juni/Juli mit einem Blütenkolben aus kleinen gelblich-grünen Blüten. Dieser Blütenkolben sitzt am Ende eines dreikantigen Stengels, der zweizeilig von den Blättern umgeben wird. Früchte werden in unseren Breiten nicht gebildet.

Kalmus ist eine Heilpflanze, deren Verwendung nachweislich bis ins 7. vorchristliche Jahrhundert reicht (in Persien, China und Indien), und hat viele Namen, noch dazu in vielen Kulturen, was ein Beweis für die hervorragende Bedeutung ist. Er stammt ursprünglich aus Indien und hat sich entlang der Handelsrouten verbreitet. Die Tataren haben auf ihren langen Ritten ihr Trinkwasser mit Kalmus frisch gehalten. Im 16. Jahrhundert soll dieses Reitervolk den Kalmus nach Osteuropa mitgebracht haben. Im Baltikum und in Ostpreußen hat er sich gern angesiedelt; in Ostpreußen und im Memelland wurde er vielfältig verwendet.

Als Pflanze besonderer Wertschätzung fand Kalmus auch Würdigung in der Literatur. In der Bibel, im alten Testament bei Moses, finden wir die Herstellung des heiligen Salböls beschrieben; Kalmus gehört hier neben Myrrhe, Zimt und Kassia zu den geforderten Zutaten. Im Hohelied Salomos erscheint ein wunderbarer Vergleich der Braut mit einem Lustgarten, in dem wertvolle Früchte, Blumen und Gewürze gedeihen, darunter der Kalmus. Bei Hesekiel entdecken wir Kalmus als besondere Ware für den Markt.

Kalmus begegnet uns bei Schriftstellern, die ihn zu Hause kennengelernt haben, zu Hause in Ostpreußen. Johannes Bobrowski aus Tilsit beschreibt in seinem Roman "Levins Mühle" den "Sonnabendduft" und wo dieser herkommt, nämlich - als Kalmus geholt vom Mühlbach - kleingeschnitten ausgestreut auf den blankgescheuerten Dielen und als Bund hinter dem großen Spiegel steckend. Auch in seinen Gedichten widmet sich Bobrowski noch mehrfach dem Kalmus. "So zärtlich war Suleyken" verschaffte Siegfried Lenz aus Lyck 1955 den Durchbruch als Schriftsteller. 1951 erschien sein erster Roman "Es waren Habichte in der Luft". An mehr als zehn Stellen finden wir Kalmus, vor allem im letzten Drittel des Romans, wo es richtig spannend wird. Der Kalmuswurzelstock dient hier als Nahrungsersatz, wird bei Hunger gekaut und verbindet zwei Außenseiter. Der Standort wird wiederum beschrieben, eine kleine verschwiegene Bucht, ein stiller Platz, und auch der Duft ist für Lenz erwähnenswert: "Es roch stark nach Fruchtbarkeit und Verwesung, nach dem ABC des Lebens."

Wenn wir uns dem häuslichen Alltag zuwenden, so finden wir, daß der aromatische Duft genutzt wurde, um den "Muff" aus dem Haus zu vertreiben. Das geschah am Sonnabend oder besonders zu Pfingsten, weil zu dieser Zeit der Kalmus gut zu ernten war. Der Flur wurde ausgestreut mit kleingehackten Kalmusblättern, zusätzlich wohl auch mit weißem Sand. Vom Flur aus erreichen wir die Küche, wo die Hausfrau nicht nur die Nahrungsmittel, sondern auch die sogenannten Hausmittel, also die Medizin zubereitet. Nahrungsmittel, Hausmittel, Heilmittel, Genußmittel, hier gibt es Überschneidungen.

Im Memelland wurden kandierte Kalmuswurzelstückchen genascht, die Letten benutzten einen alkoholischen Auszug gegen Durchfall und Bronchialbeschwerden. Schnäpse und Liköre enthielten Kalmus als aromatischen Bitterstoff. Wurden Kalmusstengel auch wie Porree gekocht und gegessen? Als Tee bei Magen- und Darmstörungen, Appetitlosigkeit, Völlegefühl und Blähungen war der geschälte, getrocknete Kalmuswurzelstock vor allem im Einsatz, als "Nervinum" - bei allgemeinen Erschöpfungszuständen - in Form von Tee und auch von Bädern. Was als Tee zubereitet werden kann, eignet sich auch für Mundspülungen und Umschläge. Im Schlafzimmer, hinter dem Spiegel, steckt der Kalmus, im Bett vertreiben frische, zerkleinerte Kalmusblätter die Flöhe. Wenn man den phallischen Blütenstand ansieht, versteht man, daß in Italien der Kalmus bis heute Erba di Venere, "Pflanze der Venus", heißt. Zur Herstellung von Liebestränken, von Liebeskonfekt und -likören wie auch zur Bereitung von Parfüm schätzen Araber und Perser die auch schon von Griechen und Römern als kräftiges Aphrodisiakum bekannte Wurzel des Kalmus.

Im 19. Jahrhundert wurden in Deutschland die eingemachten, gezuckerten Kalmuswurzeln gegen Unfruchtbarkeit gegessen. Zur "Hebung der Geschlechtskraft" bereitete man ein Pulver aus Kalmus neben anderen Bestandteilen. Tibetische Räuchermischungen mit Kalmus gelten als Verjüngungsmittel. In China ist der Kalmus ein Symbol des langen Lebens und der Fruchtbarkeit. Heute gibt es im Handel noch Kalmustee, Kalmuspulver und Kalmusöl, alle drei aus dem Wurzelstock gewonnen, der im aktuellen Deutschen Arzneicodex (DAC) und im homöopathischen Arzneibuch (HAB) beschrieben wird. Das ist wichtig, um die Qualität der Handelsware zu sichern und den Verbraucher vor Verfälschungen zu schützen. In der Apotheke erhältlich ist etwa ein "Bitter Elixier" als Fertigpräparat mit der Angabe: "Zur Anregung der Verdauungstätigkeit" und "ohne Alkohol". Neben Kalmus sind noch weitere pflanzliche Bestandteile enthalten.

In einer Tierarzneimittellehre von 1906 zählt die Kalmuswurzel zu den wertvollsten Magenmitteln, namentlich bei den Pflanzenfressern. Für Rinder und Pferde, Schafe und Ziegen, auch Schweine, Hunde, Katzen und Geflügel werden Rezepte angegeben. Doch es führt zu weit, all das aufzuzählen, wozu der Kalmus bei uns und in anderen Ländern dient bzw. diente. Wissenschaftliche Untersuchungen fragen derzeit nach Einsatzmöglichkeiten in der Medizin und in der Landwirtschaft, so als Mittel gegen Viren, Pilze und Bakterien. - Trotz der geschilderten guten Eigenschaften sollte die innerliche Anwendung nur vorübergehend erfolgen, da in Tierversuchen Krebs aufgetreten ist. Edda Fricke


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