23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
05.06.04 / Am baltischen Ufer

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. Juni 2004


Am baltischen Ufer
von Ferdinand Gregorovius

Der Weg führt nun durch das freundliche Strandgut Georgenswalde nach der Oberförsterei von Warnicken. Dieser Ort ist durch seine Naturschönheit weit berühmt, und der Fremde, der im Sommer Königsberg besucht, versäumt es nicht, da hinaus zu fahren. Wir kehren aus Hunger oder historischer Neugierde in dem kleinen Gasthof ein. Der Besitzer desselben ist nämlich gegenwärtig ein Mann, der zur Zeit der Berliner Nationalversammlung der populärste Politiker in Deutschland war, Pieper, Abgeordneter vom Samland. Kleon war ein Gerber von Athen, Pieper ein Fleischer aus Fischhausen ... Gehen wir in sein Zimmer; dort zeigt er uns sein Porträt mit einem Fragment einer seiner Reden, das Wappen der Gens Pieper, welches seine Partei für ihn hat malen lassen, ein rothes Schild mit goldenem Balken und darüber ein Leopard (das Wappen des berühmten Grafengeschlechts Pieper); er erzählt uns, wie er, als er noch auf der Linken saß, dem Fürsten Lichnowsky jedesmal hatte antworten müssen, und welche Gesandte ihn zur Tafel geladen; er zeigt uns endlich das Goldfischchen, welches er für seine Frau aus Berlin als Andenken mitgebracht hat. Sehen Sie diesen Mann, das ist die neueste Geschichte von Preußen, das ist das Satyrspiel zu der Tragödie von 1848 - ein Abgeordnetenporträt mit einem Stück Rede, ein Wappen, ein Erinnerungsgoldfischchen und Pieper - ja der Goldfisch bringt einen rührenden deutschen Zug in diese Revolutionsgeschichte ...

Hundert Schritte vom Hotel de Pieper beginnt die Wolfsschlucht. Man steigt hinab wie in ein Blättermeer, dessen grüne Wogen über der Schlucht zusammenschlagen. An mancher Stelle scheint der Himmel kaum hindurch. Die Schlucht ist das im Sommer trockene, mit Geröll angefüllte Bett eines Wildbachs, über welches Brücken führen. Zerschmetterte Bäume sind hineingestürzt, andere hängen hinab, den Niedersturz drohend. Die üppigste Vegetation bedeckt die steilen Wände, die sich nach dem Meere zu

erweitern. Man wandert in der Schlucht bergauf, bergab, immer längs des Baches in der grünen Walddämmerung, gewiegt von dem eintönigen Rauschen des Meers, das man noch nicht sieht, bis plötzlich die blaue See hereinstrahlt und sich dem Blicke die unendliche lichte Meerferne aufthut, ein überraschender Contrast zu der Enge der Schlucht und ihrem Dunkel. Wir setzen uns auf einen der Granitblöcke nieder, welche hier das Meer in großer Zahl an die Küste gewälzt hat; der Naturforscher sagt Ihnen, diese Blöcke kommen vom Nordpol, eingeklemmt in Eisschollen, und wir lachen über die Eisschollen und die eingeklemmten Naturforscher. Wir betrachten die beiden steilen Wände der Schlucht und steigen dann den hohen Jägersteig hinauf, den Blick bald auf das Meer, bald auf den mächtigen Waldwuchs neben, über, unter uns gerichtet.

Ehedem stand auf der Jägerspitze ein Belvedere. Es ist zum Theil zerstört, weil die Küste mit der Zeit nachstürzt. Nun gehen wir längs des Strandes des senkrecht abgestürzten Ufers bis auf die Fuchsspitze, einen hohen, mit schwarzem Geländer eingefaßten Vorsprung, von dem der Blick hinab fast schwindelerregend und der Prospect ins Meer überraschend groß ist. Vom Uferrand führen Wege unmittelbar in den Park von Warnicken. Ich sah manchen herrlichen Park in Deutschland, doch keinen von dieser Schönheit. Er ist ein wahrhafter Urpark, von der Natur selbst an das Meer gepflanzt, dessen Wellen, vom Sturm aufgewühlt, donnern oder still durch die Rieseneichen schimmern und die man beständig rauschen hört, wenn man unter jenen altersgrauen, moosbedeckten Bäumen liegt. Die Kunst that hier nichts, um die erhabene Natur blos zu der grotesken Arabeske einer schwülstigen Rococophantasie zu verhunzen; sie bahnte nur schattige Kreuz- und Querwege und stellte hier und da ein verwittertes Götterbild von Holz auf, die Vorstellung mythisch anzuregen, oder sie baute einen Sitz von Birkenstämmen auf irgend einer heimlichen Stell, oder sie streute Blumensamen aus. Dort liegen die Gräber zweier Kinder, tief ins Laub versteckt, wie um sich vor kalten Fremdlingsblicken zu verwahren.

Die Grasmücke und der Fink singt, der Specht hämmert, die Welle rauscht und die Blätter regen sich - die schönste Musik, die man haben kann, und auch ohne die Äolsharfe ertappen Sie sich in einer Stimmung, die zu Zeiten ihr Recht verlangt, wie ihren Spott. Die Rieseneiche streckt ihre gigantischen, knorrigen Äste weit hinaus in die nachbarliche Riesenbuche, und die Zweige bilden ein undurchdringliches Gewölbe. Unter diesen Bäumen gibt es viele vom höchsten Alter. Eine Heidenopfereiche, welche noch die Zeiten vor Adalbert von Prag gesehen, benennt eine Tafel, aber der Blitz hat den Stamm nun zersplittert. Die Maler Königsbergs kommen hierher, um diese Waldesriesen zu malen und urwäldischen Baumschlag zu studiren.

Betrachten Sie aber diese reiche Vegetation, welche, vom Seewind gefrischt, den Boden überdeckt. Die Campanula blüht hier in nie gesehener Üppigkeit und gießt eine blaue Flut zwischen den Stämmen hin. Eine Augustnacht in diesem Park, wenn alles Laub von Licht trieft oder in Schwarz getaucht ist und der Glühwurm funkelt, ist schon vorlebenswerth.

Warnicken ist der Gipfelpunkt der samländischen Natur. Hier erreichte sie ihre größte Schönheit, und damit sich begnügend, hörte sie auf, den Strand weiterhin reich auszustatten. Die Ufervegetation erstirbt von hier ab gegen Westen allmählig, aber desto grandioser treten bisweilen die nackten Uferbildungen hervor.

Bei den Fischerdörfern Groß- und Kleinkuhren thürmt sich die Küste in bizarr geformten Kegeln und Pyramiden von blauem Thon, Sand und Eisenocker, fast im Übergang zur Sandsteinbildung. Dann folgt der Wachtbudenberg und endlich an der äußersten Nordwestspitze des Baltischen Meeres der Leuchtthurm von Brüsterort. Dagegen zieht sich ins Land hinein der schöne Forst von Warnicken. In ihm liegen anmuthige Förstereien, wie Hirschau und Wilhelmshorst, die täglich von den Gästen besucht werden. Wenn Sie einen Forstmann zum Freunde haben, können Sie mit ihm das Reh und den Hirsch jagen.

Der Leuchtthurm steckt die Warnungslichter auf. Wer Falkenaugen hat, sieht noch den Schatten des vorübersegelnden Dänenschiffs am Horizont - einst donnerten auch hier in diesen Gewässern die Kanonen des Dänen und des preußischen Schiffes Adler. Es dunkelt; hier an der Nordwestspitze der Halbinsel nehmen wir vom schönen Samland Abschied ...

aus: "Idyllen vom baltischen Ufer", 1856

Alfred Partikel: Leuchtturm von Brüsterort (Öl)


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren