03.12.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
12.06.04 / Fährschiffe sind wie Primadonnen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. Juni 2004


Fährschiffe sind wie Primadonnen
von Annemarie in der Au

Nachtfährschiffe haben die Eigentümlichkeit an sich, die Orte von Insel zu Insel, Festland zu Festland des Nachts untereinander zu verbinden, wenn sich kein anständiger Mensch mehr in der Welt herumtreibt, sondern brav daheim im Bett bei seiner Frau oder noch braver unter den unsichtbaren Fittichen seiner Eltern oder der Zimmervermieterin liegt. Nachtfährschiffe haben außerdem die merkwürdige Eigenschaft, daß sie immer wieder einmal in dunkle Machenschaften verwickelt sind, womit keineswegs die von Natur aus dunklen Nächte gemeint sind.

Nachtfährschiffe nehmen mehr Eigenwilligkeit für sich in Anspruch als alle anderen Dinge in der Welt. Sie verführen zu tiefsinnigen Betrachtungen der bunten Positionslampenspiegeleien im Wasser und dazu, das Durchnäßtwerden von windgepeitschten Gischtspritzern schön zu finden oder eine winzige schwimmende Algeninsel für Wasserleichenkrimiromantik zu halten.

Die Riesen gar unter den Nachtfährschiffen führen sich auf wie Primadonnen. Sie verabschieden sich vom Land mit sirenenhaften, heiseren Aufschreien, die betören und das Fernweh aufstacheln. Sie eröffnen ihren Restaurationsbetrieb erst um 21 Uhr, auch wenn sie ihre stolze Ausfahrt schon um 19 Uhr beginnen. Und sie leisten sich den Luxus, nur einige Schlafkabinen zu haben, weil sie der Ansicht sind, daß ihre Gäste doch nur die ganze Nacht an der Reling stehen, um einsamkeitsumtost Kapitän zu spielen, ausgiebig und hochbögig in die See zu spucken - womit angeblich alle Matrosen der Welt ausschließlich und weltverachtend beschäftigt sind - oder um farbensprühend in düstere Sehnsüchte hineinzuträumen.

Auf ein solches Nachtfährschiff, dessen Name und Nationalität aus Gründen der Vermeidung internationaler Konflikte verschwiegen werden soll, hatte sich Alfred Stachel eingebucht. Jahresurlaub, Ferienmassenverkehr und eigene

Ahnungslosigkeit hatten ihn zu diesem Schritt getrieben, obwohl dies nahezu der Ableugnung seines soliden und wohlgeachteten Beamtenstatus gleichkam. Natürlich war auf dem Nachtfährschiff kein einziger Kabinenplatz mehr frei, das müde Haupt zu betten.

Da aber Alfred Stachel alles Träumen strikt ablehnte, spucken nicht liebte und über Kapitänswürdenwünsche längst hinausgewachsen war, er - um es anders zu sagen - keine Lust verspürte, die Nacht über der Reling zu lehnen, an Deckplätzen zu vergammeln oder in der Restauration zu veröden, ließ er sich vom Worte "Liegesessel" betören. Er entschied sich, sein Schlafbedürfnis gegen Bezahlung in den Schoß besagten Liegesessels zu legen.

Hätte er doch nie diese Entscheidung getroffen. Sie deckte einen absoluten Mangel in seinem höheren Beamtenwissen auf. Die Liegesessel hießen nämlich Liegesessel, weil sie weder herkömmliche Sessel noch zum Liegen eingerichtet waren. Wie in einem Kinosaal oder Flugzeug standen sie hochlehnig und steif in breiten Reihen hintereinander. Sie ließen sich weder durch Hebeldrücke, die bei den Schlafbeflissenen dieser Nacht vom schüchternen Versuch über Rütteln, Drehen und Drücken bis hin zur rohen Gewalt reichten, noch durch das immer lauter werdende Murren aus ihrer Sturheit bringen. Also war auch Alfred Stachel nach einigen Vergeblichkeiten genötigt, samt seiner angelieferten Schlafdecke in benanntem Liegesessel zu nächtigen, so gut er damit fertigwerden mochte.

Ein korrekter Beamter ist es gewohnt, sich nicht auf seinem Platz hinzufläzen, sondern gerade und aufrecht zu sitzen. Also setzte sich Alfred Stachel kerzengerade in seinen Liegesessel hinein.

Da bekam er gleich den ersten Streit mit ihm, denn der war nicht fürs Kerzengeradige, sondern er wünschte sich eine deutliche, wenn auch noch so leichte devote Neigung des Kopfes nach vorne. Das wiederum paßte Alfred Stachel überhaupt nicht. Denn wie kam er dazu, Devotion zu zeigen, wo weder der Herr Oberbürgermeister noch der Dezernent oder gar sein Abteilungsleiter in der Nähe war. Er wollte sein Genick schon steif halten. Nur die Brust heraus und das Kreuz fast so hohl wie die Biegung einer gemäßigten Haarnadelkurve. So bewahrt man Haltung. Aber wer kann dabei schon schlafen.

Wer ein sanftes Ruhekissen haben will, muß sich anpassen. Alfred Stachel wollte schlafen, weil für ordentliche Menschen die Nacht zum Schlafen da ist. Beamte sind ordentliche Menschen. So streckte er schließlich vorsichtig, jede halbe Minute um einen schier unmerkbaren Zentimeter nachgebend, erst die Beine aus, dann die Arme, dann gab auch der Rücken nach. Zuletzt das Genick. Letzteres war verkehrt, es wurde nun erst recht steif.

Wunde Punkte sind immer geneigt, Stufen sozialen Abstiegs zu werden. Alfred Stachel ahnte nicht, daß er besagten Abstieg begann, als er seine Lage mit einem deutlichen Linkswendung-Seitenhang zu verbessern glaubte. Da schließlich auch die verworrene Rechtslage, in die er sich bald darauf hineinwarf, keinen Schlaf einbrachte, paßte er sich nicht mehr seinem Liegesessel, sondern den Schlafversuchen seiner Umgebung an. Damit war - auch wenn er zunächst seine Beine heraufzog - sein Abstieg von seiner geistigen Höhe in die Gefilde der Unterwelt nicht mehr aufzuhalten.

Er hängte die Beine in die Schwimmgürteltaschen des Vordermannsitzes. Er versuchte vergeb-lich, Kopf, Rumpf und Beine zugleich auf dem schmalen Sitz liegend unterzubringen. Er verbreiterte sich über die Armstützen so weit hinaus, bis seine Nachbarn ihn einen Flegel nannten. Er entledigte sich nacheinander der Krawatte, Überlegenheit, neuen Freizeitjacke, selbstgestrickten Anstandsregeln und des Hosenbundverschlusses. Seine Zimmerwirtin, die ihn sogar durch das Schlüsselloch hindurch kannte, hätte in diesem Augenblick mit Recht abgeleugnet, ihm je begegnet zu sein.

Nur in einem wäre er zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch zu erkennen gewesen: während alle anderen schlaflosen Fährengäste in ihren kraftausdrucksstarken Landessprachen sich Rat und Mut zuflüsterten, murrten, fluchten, absolvierte Alfred Stachel besagte Terminologie noch in bestem Beamtendeutsch. Als nach mehrstündigem, erfolg- und schlaflosem Lageberichtigen sich seine Schienbeine blaue Flecken, sein Kopf eine Beule und sein neues Freizeithemd einen daumenlangen Riß geholt hatten und lediglich sein rechter Arm eingeschlafen war, war auch er zum unliterarischsten Niveau seiner Landessprache zurückgekehrt. Nun trennte ihn nichts mehr vom Boden nacktesten Existentialismus.

Am Morgen erwachte Alfred Stachel verschlafen, wenn auch nicht ausgeschlafen am Boden des winzigen Garderobenaufbewahrungsraumes vor den Liegesesseln als Penner unter Pennern. Ein korrekter Beamtenanzug ging als Gammlerfigur von Bord. So hart kann das Leben in einer einzigen Feriennacht zuschlagen. Nachtfährschiffe sind wie Primadonnen, man muß sich ihren Launen unterwerfen.

Verbindung über See: Fährschiffe warten auf ihre Passagiere. Ob sie allerdings eine bequeme Überfahrt haben werden? Foto: Archiv


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren