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12.06.04 / "Himmel, wo sind meine Schuhe geblieben?"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. Juni 2004


"Himmel, wo sind meine Schuhe geblieben?"
von Willi Wegner

Früh am Morgen öffnete ich die Hotelzimmertür, um meine über Nacht geputzten Schuhe hereinzuholen. In manchen Häusern gibt es diesen Kundendienst noch. Aber ich traute meinen Augen nicht. Da stand nämlich ein zierliches Paar perlgrauer Damenschuhe aus Antilopenleder. Von meinen eigenen Schuhen keine Spur!

Also betrat ich wenig später in Hausschuhen den Frühstücksraum. Am Nebentisch saß das Ehepaar aus Zimmer 33 mit seinem etwa achtjährigen Sprößling, einem ziemlich übermütigen Burschen. Aber heute früh war er auffallend kleinlaut. Der Vater sagte gerade zu ihm: "Was hast du dir überhaupt bei dieser Geschichte gedacht?" - "Ich konnte nicht einschlafen", sagte der Junge. "Da hab' ich mal nachgeguckt, wie's draußen aussieht, und da sah ich überall die Schuhe stehen. Das fand ich echt lustig!" - "Wenn du wenigstens nur die Schuhe in unserer Etage vertauscht hättest! Jedenfalls will der Geschäftsführer mit uns sprechen, und ich vermute, daß wir uns ein anderes Hotel suchen müssen. Schämst du dich denn überhaupt nicht?" - "Doch, sehr. - Sieh mal, Vati! Der Mann da hat seine Schuhe auch nicht wiedergefunden und mußte seine Hauslatschen anziehen!" Mit dem Mann meinte er mich.

Als die Eltern zu mir herübersahen, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Es ist ja kein Beinbruch", sagte ich. "Es wird schon jeder seine Schuhe wiederbekommen." - "Möglich", sagte der Vater. "Aber ich verstehe überhaupt nicht, wieso das Hotelpersonal die Schuhe nicht längst wieder vor die richtigen Türen zurückgestellt hat. Bevor die einzelnen Schuhpaare zum Putzen eingesammelt werden, schreibt man doch mit Kreide die Zimmernummern auf die Sohlen. Es wäre doch ganz einfach ..."

Der inzwischen an unseren Tisch getretene Kellner mußte einen Teil der Unterhaltung mit angehört haben, denn er sagte: "Gerade in diesem Augenblick werden die Schuhe dorthin gebracht, wohin sie gehören. Es war leider nicht eher möglich, da die polizeilichen Ermittlungen noch nicht abgeschlossen waren." - "Man hat sogar die Polizei hinzugezogen?" erschrak der Vater. "Drei Mann hoch von der Kripo!" sagte der Kellner. "Aber da kommt ja schon der Geschäftsführer, der mit Ihnen sprechen will!"

Der Mann ging sofort auf den jugendlichen Bösewicht zu, hob ihn mit beiden Armen in die Höhe und rief: "Du Schlingel, was machst du nur für Sachen? Nein, nein, du brauchst nicht zu weinen! Die Direktion hat soeben beschlossen, dich zum Ehrengast des Hotels zu ernennen!" Und zu dem verdutzten Vater sagte er: "Für die restlichen zwei Tage Ihres Aufenthaltes in unserer Stadt steht Ihnen das Zimmer 33 natürlich kostenlos zur Verfügung!"

Noch vor meiner Abreise erfuhr ich von einem der Zimmermädchen, daß eine ältere, sehr betuchte Operndiva für eine Weile im Hotel wohnte. Es sei allgemein bekannt, daß sie auf Reisen immer ihren ganzen Schmuck mit sich herumschleppe. Am Abend zuvor sei nun ein international gesuchter Hoteldieb im Hause abgestiegen. "Er hatte es, wie er inzwischen gestanden hat, haargenau auf diesen Schmuck abgesehen. Irgendwann in der Nacht drang er in das Zimmer der Sängerin ein und riß sich die Klunker unter den Nagel. Dann kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück, um erst am frühen Morgen auf ganz normalem Wege und völlig unauffällig das Hotel wieder zu verlassen. Angeblich war das seine Arbeitsmethode, und sie soll auch jahrelang funktioniert haben. Nur diesmal nicht ..."

"Und warum nicht?" fragte ich. "Weil seine Schuhe nicht mehr da waren!" lachte das Zimmermädchen. "Die, die statt dessen vor seiner Tür standen, paßten ihm nicht - denn er hat die Größe 45. Also machte er sich auf die Suche. Erst in seiner Etage, dann in den Etagen über und unter ihm. Zwischendurch probierte er einige andere Exemplare an - aber sie waren ihm alle viel zu klein! So geschah es, daß er in Panik geriet und immer nervöser und unvorsichtiger wurde. Jedenfalls wurde Franz, unser Nachtportier, auf ihn aufmerksam und konnte ihn überwältigen."

Soweit die Geschichte des Mannes, der auf zu großem Fuß lebte. Ich verließ das Hotel zur gleichen Zeit wie eine ganz bezaubernde junge Frau. Zufällig standen wir nebeneinander an der Rezeption, und ich starrte verwundert auf ihre zierlichen perlgrauen Schuhe aus Antilopenleder. "Welch ein Wiedersehen!" sagte ich. "Diese entzückenden Schuhe standen, ob Sie's glauben oder nicht, in der Nacht vor meiner Zimmertür!" "Sie ticken wohl nicht richtig!" fauchte mich die Schöne an. "Bilden Sie sich nur nichts ein!" Grußlos wandte sie sich ab und verließ das Hotel.


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