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Preußische Allgemeine Zeitung / 19. Juni 2004
Wacht auf, Verdammte dieser Erde ... Völker höret die Signale! Auf zum letzten Gefecht!" Dieses kommunistische Kampflied - die "Internationale" - sollte nach dem Willen des Intendanten des Kasseler Staatstheaters, Volker Nix, beim VW-Werkskonzert vor den Arbeitern des VW-Werkes Baunatal bei Kassel intoniert werden, gewissermaßen als "das letzte Gefecht" des knapp 50jährigen in seiner Eigenschaft als Intendant. Verläßt doch Nix, ein Prototyp linker Kulturschickeria, Ende August das nordhessische Kassel, wo sein Wirken mehr provozierend als glücklich gewesen ist. Sein Vertrag wurde nicht verlängert. Die gute und beliebte Tradition der Werkskonzerte bei VW sollte nach dem Willen des Intendanten neben Melodien aus der Oper Carmen und dem Musical West Side Story eine politisch-sozialrevolutionäre Note erhalten. Aus diesem Grund hätte Nix am liebsten die kommunistische "Internationale" vom Orchester spielen lassen. Die "Internationale" vor fast 5.000 Arbeitern spielen zu lassen entspricht dem salonbolschewistischen Impetus des scheidenden Intendanten, der ab 1. September 2004 als Rektor der Fachhochschule Brandenburg wirken wird, wo er im dritten Wahlgang mit sieben zu fünf Stimmen knapp in diese Position gerufen wurde. Doch dieses Mal stoppten ihn einige Orchestermusiker, die aus der früheren DDR stammen, dort die Realität des Kommunismus hatten erleben müssen und sich in diesem sozialistischen "Arbeiter- und Bauernstaat" zu den "Verdammten dieser Erde" zählten. Sie weigerten sich, das weltweite kommunistische Kampflied zu Gehör zu bringen, wie "ihr" Intendant es verlangte. Diese "Internationale", deren Tradition in die Zeit der Pariser Kommune im Jahr 1871 reicht, verdrängte als proletarisches Kampflied die "Marseillaise", die schon 80 Jahre früher nach der "Guillotine-Revolution" zur französischen Nationalhymne avanciert war. Die "Internationale" war von 1917 bis 1943 die offizielle sowjetische Staatshymne, bis Stalin diese aus taktischen Gründen im Zweiten Weltkrieg durch ein an den nationalrussischen Patriotismus appellierendes Lied ersetzte. ("Dir, freies Vaterland, klinge das Ruhmeslied ... Mit vom Kommunismus erfüllten Ideen erblüht einst die Heimat unsterblich und schön.") Als Kampfgesang der Kommunisten und Linkssozialisten hat die "Internationale" noch heute "Kultcharakter". "Wir schwelgen eben gerne mal in Nostalgie und träumen von der großen revolutionären Massenbewegung von früher", heißt es bei Ewiggestrigen. Sympathien genoß das Lied auch bei den Nationalsozialisten, die versuchten, es in umgetexteter Version zu vereinnahmen. Und "immer mehr" entdeckte auch der Rechte Franz Schönhuber die, wie er sagt, "prophetische Kraft des mitreißendsten Kampfliedes, das uns die Geschichte geschenkt hat: die Internationale!" Die gegen diese "Internationale" protestierenden Orchestermusiker jedenfalls wandten sich an das hessische Kultusministerium, nachdem ihnen Intendant Nix, wie sie erklärten, mit der Kündigung gedroht hatte. Eine Ministeriumssprecherin sagte dazu: "Wir halten es für unzumutbar, Orchestermitglieder, die unter dem DDR-Regime gelitten haben, so unter Druck zu setzen." Generalmusikdirektor Roberto Paternostro erklärte, Nix habe das Programm nicht mit ihm abgestimmt. Darum habe er auf Wunsch des Orchestervorstandes die Vorbehalte gegen die "Internationale" vorgebracht, denn "man sollte Leute nicht zwingen, etwas zu spielen, mit dem sie in ihrer Lebensgeschichte eine sehr schmerzliche Erfahrung gehabt haben". Nix wiederum stellte zu den Vorgängen in einem Zeitungsartikel mit realsozialistischer Logik fest: "Es gibt eben doch kein Bündnis zwischen Staatsmusikern und Arbeiterklasse." Die Kündigungsandrohung bestritt der Intendant. Er habe "niemanden gezwungen". Die Weigerung, das Stück zu spielen, habe er als "albern" empfunden. Auf Vorschlag des Ministeriums sei statt der "Internationale" die "Marseillaise" in das Programm genommen worden. So wurde für die VW-Arbeitnehmer schließlich statt der "Internationale" die "Marseillaise" gespielt, vielleicht als ein Akt der Wiedergutmachung dafür, daß sie vor mehr als 100 Jahren von der "Internationale" als sozialrevolutionärer Kampfgesang verdrängt worden war. Heißt es doch in dieser französischen Nationalhymne: "Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, vorwärts marschieren wir. Das unreine Blut tränke die Furchen unserer Äcker." Die Kasseler Irritationen um martialische Kampfgesänge waren zur Groteske geworden, die zur Ironie einlädt. Da die amerikanische Hymne schon aus ideologischen Gründen von vornherein nicht in Frage kam, obwohl sie vom Text her zu den anderen gepaßt hätte ("Handgranatenblitze, Raketen grellrot / Bezeugen durch Nacht, daß die Fahne noch loht"), fragt man sich, war-um keiner der - wie sagt man heute - "Entscheidungsträger" auf die Idee gekommen ist, das Kaiserquartett von Joseph Haydn im VW-Werk zu spielen. Als Hymne "Gott erhalte Franz den Kaiser" hatte Haydn eine eindrucksvolle Melodie komponiert, die später in das Kaiserquartett in vier Variationen einging und 1922 mit dem Text Hoffmanns von Fallersleben vom ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) zur deutschen Nationalhymne bestimmt wurde. "Besser hätte er nicht wählen können", sagte Golo Mann im März 1989. Der Text, "verklärt durch die Haydn'sche Melodie", sei verglichen mit anderen Hymnen "reinste Lyrik". Und der bekannte Staatsrechtslehrer Theodor Eschenburg sagte 1961: "Hoffmanns Werk ist ein Lied der Innigkeit und der Sehnsucht, nicht aber der Macht und des Chauvinismus." Doch wer hat schon im Alltag des heutigen Deutschlands Haydns Melodie in Kopf und Herz? Goethe hätte zu alledem wohl gesagt: "Willst Du in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah." |